Der aufziehende Sturm
Konnte selbst er, der Wiedergeborene Drache, es überhaupt wagen, so etwas in Betracht zu ziehen?
Er überquerte den ächzenden Holzfußboden des Korridors und stieß die Tür zu seinem Zimmer auf. Min lag auf dem Bett, einige Kissen im Rücken, und trug ihre bestickten grünen Hosen und ein Leinenhemd. Im Licht der Lampe blätterte sie in einem Buch. Eine ältere Dienerin huschte geschäftig umher und sammelte das Geschirr von Mins Abendmahlzeit ein. Rand schälte sich aus dem Mantel und seufzte.
Er setzte sich auf die Bettkante, und Min legte das Buch weg, ein Band mit dem Titel Eine ausführliche Diskussion von Relikten aus der Zeit vor der Zerstörung der Welt. Sie setzte sich auf und rieb mit einer Hand seinen Nacken. Schüsseln klirrten, als die Dienerin sie zusammenstellte, und sie verneigte sich entschuldigend und lud sie nur noch schneller in ihren Tragekorb.
»Du treibst dich wieder zu hart an, Schafhirte«, sagte Min.
»Das muss ich.«
Sie kniff ihn hart in den Nacken, und er zuckte grunzend zusammen. »Nein, das musst du nicht«, sagte sie ihm leise ins Ohr. »Hast du mir nicht zugehört? Wozu wirst du noch zu gebrauchen sein, wenn du dich vor der Letzten Schlacht erschöpfst? Beim Licht, Rand, ich habe dich seit Monaten nicht mehr lachen gehört.«
»Ist das wirklich eine Zeit zum Lachen?«, wollte er wissen. »Willst du wirklich, dass ich glücklich bin, während Kinder verhungern und Männer einander umbringen? Soll ich lachen, wenn ich höre, dass Trollocs noch immer durch die kurzen Wege kommen? Soll ich darüber glücklich sein, dass der größte Teil der Verlorenen noch immer irgendwo dort draußen lauert und darüber nachdenkt, wie sie mich am besten töten können?«
»Nun, nein«, sagte Min. »Natürlich nicht. Aber wir dürfen nicht zulassen, dass die Probleme der Welt uns vernichten. Cadsuane sagt ...«
»Warte«, fauchte er und drehte den Oberkörper, damit er sie ansehen konnte. Sie kniete auf dem Bett, das kurz geschnittene dunkle Haar kräuselte sich unter ihrem Kinn. Sein Tonfall schien sie zu entsetzen.
»Was hat Cadsuane damit zu tun?«, fragte er.
Min runzelte die Stirn. »Nichts.«
»Sie hat dir gesagt, was du sagen sollst. Sie benutzt dich, um an mich heranzukommen!«
»Sei kein Narr.«
»Was hat sie über mich gesagt?«
Min zuckte mit den Schultern. »Sie sorgt sich darüber, wie abweisend du geworden bist. Rand, worum geht es hier?«
»Sie will mich manipulieren. Sie benutzt dich. Was hast du ihr erzählt?«
Min kniff ihn erneut fest. »Mir gefällt dein Ton nicht, Dummkopf. Ich dachte, Cadsuane wäre deine Beraterin. Warum sollte ich in ihrer Gegenwart aufpassen, was ich sage?«
Die Dienerin klirrte noch immer mit dem Geschirr. Warum konnte sie nicht einfach verschwinden! Diese Art Diskussion wollte er nun wirklich nicht vor Fremden führen.
Min konnte nicht mit Cadsuane zusammenarbeiten, oder doch? Er vertraute Cadsuane keinen Fingerbreit. Wenn sie zu Min durchgedrungen war ...
Etwas verkrampfte sich in seinem Herzen. Misstraute er jetzt tatsächlich schon Min, war das möglich? Sie war immer diejenige gewesen, die ihm ehrlich gegenübergetreten war, die mit ihm keine Spielchen getrieben hatte. Was würde er machen, wenn er sie verlor? Soll man mich doch zu Asche verbrennen!, dachte er. Sie hat recht. Ich bin zu abweisend geworden. Was wird aus mir, wenn ich jetzt anfange, denen zu misstrauen, von denen ich weiß, dass sie mich lieben? Dann bin ich nicht besser als der verrückte Lews Therin.
»Min«, sagte er und mäßigte seinen Tonfall. »Vielleicht hast du recht. Vielleicht bin ich zu weit gegangen.«
Sie schaute ihn an, entspannte sich. Dann versteifte sie sich, riss entsetzt die Augen auf.
Etwas Kaltes schloss sich klickend um Rands Hals.
Er griff danach, fuhr herum. Die Dienerin stand vor ihm, aber ihre Gestalt verschwamm. Sie verschwand und wurde von einer Frau mit schwarzer Haut und schwarzen Augen ersetzt, deren scharf geschnittenes Gesicht triumphierte. Semirhage.
Rand berührte Metall. Zu kaltes Metall, das sich wie Eis anfühlte und gegen seine Haut drückte. Außer sich vor Zorn versuchte er, das Schwert aus seiner schwarzen, mit dem Drachen bemalten Scheide zu ziehen, musste aber entdecken, dass er das nicht konnte. Seine Beine spannten sich an, als müssten sie gegen ein unvorstellbares Gewicht ankämpfen. Er riss an dem Kragen herum - die Finger konnte er noch bewegen -, aber das Metall schien aus einem einzigen, glatten, fugenlosen Reif
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