Der Augenblick der Liebe
aufgenommen worden sei. Wann aufgenom men, warum so spät und wie dann. Im Internet hatte diese Beate Gutbrod offenbar entdeckt, daß Gottlieb vor fünfzehn Jahren in einem Anfall von Begeisterung zwei Aufsätze über La Mettrie geschrieben hatte.
Hier heiße ich Zürn, sagte Gottlieb jetzt. Er tat, als bemerke er Annas kritische Neugier nicht. Die Besucherin sollte den Eindruck haben, seine Frau sei informiert darüber, daß er unter dem Namen Wendelin Krall über La Mettrie veröffent licht hatte. Gewußt hatte sie es einmal. Vor fünfzehn oder sechzehn Jahren. Verwitterte Inschriften im Ehegestein. Vielleicht wußte Anna wirklich nicht mehr, daß ihr Mann jedes seiner wenigen Themen unter einem anderen Namen bearbeitet hatte. Und für La Mettrie war eben Wendelin Krall zuständig gewesen. Den Satz, daß er hier Zürn heiße, begleitete Gottlieb mit Gesten, die der Besucherin sagen mußten, hier am Tisch, hier beim Tee heiße ich Zürn. Warum sollte er dieser Besucherin die Innenansichten seiner Ehe präsentieren. Auch wenn Gottlieb nur sogenannte Tatsachen mitteilen würde, wüßte so eine Besucherin nichts über diese Ehe, sondern nur das, was er ihr über diese Ehe mitteilen wollte. Was verstünde denn eine Besucherin, wenn er jetzt Annas deutliches Informationsdefizit mit den Sprech und Sprachgepflogenheiten dieser Ehe erklärte! Daß sie, wenn nicht gerade Kinder da sind, nach einander frühstücken, ist der Ausdruck einer Übereinstimmung, die eine Besucherin nicht begreifen kann. Überhaupt vollzieht sich das Gespräch zwischen ihm und Anna auf einer für eine Besucherin vor Höhe unhörbaren Frequenz. Die höchsten Töne sind die feinsten. Nur daß Sie¹s wissen. Je weniger sie mit einander sprechen, desto besser verstehen sie einander. Das erklär mal einer Besucherin. Je länger sie nicht mit einander sprechen, desto näher kommen sie einander. Also wegen einer Besucherin, die zum Kaffee kommt, weil sich das mit dem Besuch der Großtante namens Mimi verbinden läßt, wegen einer solchen exemplarischen Unwichtigkeit das sich geradezu samtig anfühlende Einvernehmen des Schweigens dem Mißverständnis einer Touristin auszuliefern − nein, danke.
Andererseits hatte die so eröffnet, daß er hoch eingestiegen war. Das war ein Duett. Diesem Duett nachhörend saßen sie dann. Zu wissen, woran jetzt jeder an diesem Tisch denkt, brächte einen weiter. In der Menschenkenntnis. Die es nicht gibt. Weil keiner in den anderen hineinsieht. Wenn er der Besucherin sein und Annas einvernehmliches Nichtssagen erklären könnte, wüßte sie immer noch nicht, wie wichtig Anna für ihn wird, wenn sie dann einmal drauflosquatscht. Er sitzt, sie räumt auf, er kann nur sitzen, starren, sie aber redet, und das tut sie für ihn. Zustimmend schweigen, das kann er noch. Sie plappert bewußt, macht deutlich, daß sie jetzt nur plappert, damit demonstriert sie, man könne doch immer noch plappern, Quatsch reden. Es kann sein, sie versackt dann jäh. Dann wird es ziemlich still. Dann fängt er an. Er schafft nicht halb soviel Stimmung oder wenigstens Akustik wie sie. Und gibt auch gleich auf. Dann ist die Stille, die folgt, ein Ausdruck vollkommener Harmonie. Näher kann man einander nicht sein als in dieser wunderbaren Wüste gemeinsam erworbenen Schweigens.
Es war die Besucherin, die verfügte, daß er jetzt und wie er jetzt über Anna nachdachte. Wäre doch Anna ein wenig weniger lieb. Er merkte, daß er, wenn er, was vom Liebsein handelte, hochkommen ließ, schnell bei einem Generalver dacht landen würde. Wollte er etwas gegen Anna
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