Der Augenblick der Liebe
längst wußte: Es gibt keine Zufälle. Was man für Zufall hält, ist immer eine noch nicht erkannte Gesetzmäßigkeit. Sollte er der Besucherin eigentlich sagen, welchen Tag sie sich ausgesucht hatte? Das würde allerdings ihr Duett mit einer Schicksalswucht aufladen, der sie, beide, nicht entsprechen konnten. In zwei Stunden wür de sie gehen. Aufnichtmehrwiedersehen. Zurückbleiben wür de die Sonnenblume. Er wußte plötzlich, was die Sonnen blume wollte. Herrschen. Nein, die wollte nicht herrschen, die herrschte. Duldete nichts neben sich. Gottlieb sagte: Diese Sonnenblume. Und die Besucherin: Ja? Und Gottlieb: Unglaublich. Die Besucherin lachte laut auf. Das sei offenbar das Lieblingswort in dieser Familie. Gottlieb dachte: Die ist ziemlich wach.
Warum haben Sie nicht weitergemacht, Herr Zürn? Mit La Mettrie? Das fragte sie vorwurfsvoll. Sie wollte sich offenbar hineinsteigern. Gottlieb kannte das. Dem anderen zuliebe so tun, als könne man sich nicht mehr fassen vor Angetansein. In diesem Fall von La Mettrie und einem von La Mettrie heftig belebten Gottlieb Zürn. Und dann auf einmal gar nichts mehr. Warumwarumwarum, Herr Zürn! Sie sah ihn an, als wisse sie, warum, wolle es aber von Herrn Zürn hören. Da sie einander im Namen La Mettries gegenüber saßen, konnte das damalige Nichtmehrweitermachen nur mit Herrn Zürns Gefühlswelt zu tun haben. Und das wollte sie wissen. Aus wissenschaftlicher Neugier. Sie machte es glaubhaft klar. La Mettrie fordert den ganzen Menschen. Wenn sie beschreiben will, warum La Mettrie in Deutschland so zögerlich aufgenommen wurde und wird, dann kann sie das, sagte sie, am genauesten an einzelnen Erfahrungsbei spielen darstellen. Sie vermute, Resignation sei das Motiv, das persönliche und das gesamtgesellschaftliche, also nationale. In der DDR noch eine kleinmütige, halbherzige Pflege, weil La Mettrie viel zu lebendig, viel zu naturtreu und, trotz aller materialistischen, antimetaphysischen Lei denschaft, eben überhaupt nicht klassenkämpferisch aus beutbar gewesen sei. Und im Westen? Dann, exemplarisch, bei Wendelin Krall alias Zürn?
Gottlieb hätte ihr sagen müssen: Als es erlosch, das Ga brieleGottliebFeuer, da erlosch auch − in Gottlieb − das La MettrieFeuer. Er hatte die Nase voll vom Leben be ziehungsweise von der Natur. Er war überhaupt nicht mehr verständnissüchtig, wißbegierig.
Anna hatte nach dem Abschied von allen möglichen Einbildungen ihren Beruf zur Raserei entwickelt. Gottlieb war einfach versunken. Senkrecht hinab. Wenn es Scheintod gibt, muß es auch Scheinleben geben. So empfand er, dachte er. Aber die Besucherin sprudelte. Ihr Mund wogte, als habe er Wehen. Sie sah ihn an. Ein starker Blick, dachte Gottlieb. Dieses geradezu massive Blau. Dieser Blick meinte andau ernd etwas. Annas Blick war die bedeutungsabweisende Meeresweite schlechthin. Die Augen der Besucherin lieferten andauernd das Gefühl zu dem, was ihr Mund gerade sagte. Der Mund, dieses sich auf Wörter reduzierende Lippenge lände, hatte zu kämpfen, um das herauszubringen, was die Augen schon wußten und ausdrückten. Dieser um Sätze kämpfende Mund sah doch wirklich aus, als habe er Wehen.
Die Natur hat uns einzig und allein dazu geschaffen, glücklich zu sein; ja, uns alle − vom Wurm, der auf dem Boden dahinkriecht, bis zu dem Adler, der sich in den Wolken verliert.
Und wenn sie so ein Paradezitat ausgestoßen hat, wartet sie auf die Wirkung. Herr Zürn, Sie sind auf dem Prüfstand, stellvertretend für Ihre Landsleute, zeigen Sie Wirkung oder gestehen Sie, daß Sie keine mehr spüren. Daß einer kurz vor 1750 vollkommen Schluß
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