Der Augenblick der Liebe
könne. Arzt und Philosoph, und beides so heftig, daß daraus notwendigerweise ein Drittes hervorgehen mußte, nämlich ein Mensch, der mit seinen Sinnen soviel erfuhr, daß er auch als Denkender niemals von seinen Erfahrungen verlassen wurde. Einverstanden? Gottlieb hob die Hände, ließ sie fallen, nickte, das hieß, bitte, machen Sie weiter, ich höre Ihnen gern zu.
Ihr Thema sei La Mettries aufhaltsames Bekanntwerden in Deutschland. Mit dem Satz, die Bewegung, die die Welt erhält, hat sie auch erschaffen können, habe La Mettrie sie kassiert, sagte sie. Sie soll, sie will in einer Doktorarbeit nachweisen, warum die sonst so geistesimportfreudigen Deutschen für La Mettrie nicht viel übrig hatten und haben. Glen O. Rosenne, ihr Professor, und der Gründer der amerikanischen La MettrieGesellschaft, hat Vermutungen, die sie bestätigen soll. Tatsächlich werde La Mettrie in der deutschen Universi tätsphilosophie am liebsten unter plattem Materialismus geführt, als oberflächlich, einseitig, Erfinder einer nur dem Genuß verschriebenen Unethik! Schon wie sein wichtigster Titel übersetzt wird: Der Mensch eine Maschine, oder neuestens: Der Mensch als Maschine. Für L¹Homme Machine! Leicht zu übersetzen sei das nicht. Aber dann soll man¹s doch lieber lassen. Es war Rosenne, der sie auf Wendelin Krall brachte, auf seine zwei Aufsätze. Als sie Vor Rousseau war La Mettrie gelesen hat, hat sie gewußt, daß sie diesen Wendelin Krall einmal sehen möchte. Und dann Alles eins. Da sind dem Wunsch Flügel gewachsen. Der Akzente Redaktion hat sie abgerungen, wer dieser im Internet gefundene Wendelin Krall wirklich ist. Immerhin ist es fünfzehn Jahre her, seit die zwei Aufsätze erschienen sind. Beide im selben Jahr, und dann nichts mehr. Warum dann nichts mehr? Das fragt auch Glen O. Rosenne. Hat Wendelin Krall weiter geforscht über La Mettrie und in Deutschland niemanden mehr gefunden, der sich dafür interessierte? Ihre Arbeit wird wahrscheinlich drei Stadien beschreiben: erstens Hegel, zweitens Marx und der Materialismusstreit auf der Göttinger Naturforscherversammlung, 1854, Lichtblick Karl Vogt mit seinem Buch Köhlerglaube und Wissenschaft, dann die Verfinsterung durch den Neukantianismus. Drittens: die sogenannte Gegenwart, zu der dann auch Wendelin Krall zählt.
Er hätte der Besucherin gern gesagt, wie großartig er es finde, daß seine Frau einfach aufgestanden und gegangen sei. Eine Protokollierung. In Pfullendorf. Ihren Mann kann sie ruhig bei einer zirka vierzig Jahre jüngeren Besucherin aus North Carolina sitzen lassen. Schon an solche Zahlen zu denken, ist ... ist ... ist beleidigend.
Die aus dem zweiten Stock von Caldwell Hall hängende rötliche Kunststoffröhre mit der deutlichen Schlußwölbung hat Anna gar nicht mitgekriegt. Er hatte Anna im Blickfeld. Annas große Augen verrieten fast nie, was hinter diesen Augen vorging. Diese Augen sind zu groß, vielleicht auch zu tief. Annas Augen sind wie ein Meer, das zu groß ist für Stürme. Auf jeden Fall sind sie nicht zu bewegen durch grelle Nachrichten über eine Caldwell Hall in North Carolina. Wahrscheinlich entwarf Anna, während die Besucherin sprach, den Vorvertrag für eine Villa mit Seeblick in Nonnenhorn. Die Besucherin wollte mit ihrer Caldwell HallAnzüglichkeit wahrscheinlich nur Freimut beweisen. Zur Lockerung des beginnenden Gesprächs. Gottlieb konnte sich nicht hindern zu denken: Sie hat einen unanständigen Mund. Das wird man ja wohl noch denken dürfen. Er hörte ihr zu, sagte auch mal etwas Zustimmendes, dachte aber
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