Der Augenblick der Liebe
immer wieder an Gabriele, die vor ein paar Tagen angerufen hatte, und wie immer hatte sie gesagt: Moment, ich muß das Fenster schließen, du sprichst so leise. Dann hatten sie weitertelephoniert. Mehr als einmal im Jahr telephonierten sie inzwischen nicht mehr. Und jedes Mal war es Gabriele, die anrief. Und jedes Mal hatte sie einen sogenannten Grund. Diesmal war es ihr Entschluß gewesen, nicht mehr Gabriele zu heißen, sondern Gabriela. Sie könne, hatte sie gesagt, nicht mehr begreifen, daß sie es so lange ausgehalten habe, als Gabriele herumzulaufen. Und übermorgen sei, bitte, ihr und sein La MettrieGedenktag.
Inzwischen sind es fünfzehn Jahre her, daß sie Gottliebs Aufsatz Vor Rousseau war La Mettrie gelesen hatte. Und nichts, was sie je gelesen hat, sagte sie jedes Mal, habe ihr Leben so verändert wie dieser Aufsatz. Weniger wegen Gottlieb als wegen La Mettrie. Sechzehnmal hatte sie ihn damals in acht Tagen angerufen. Die Theologiestudentin in Tübingen. Dann folgte Alles eins. Diesen Aufsatz hätte er vielleicht gar nicht geschrieben ohne das Zustimmungs vibrato der Theologiestudentin.
Nur durch die Natur begreifen wir den Sinn der Wörter des Evangeliums, dessen wahrer Interpret ganz allein die Erfahrung ist.
Das war der La MettrieSatz, der zu ihrem Tag und Nachtgebet wurde, wenn sie neben einander oder auf ein ander lagen, er zwanzig Jahre älter, gerade noch in Frage kommend, vielleicht schon nicht mehr, aber vielleicht doch noch, weil sie diesen Leben spendenden Textstrom hatten. Daß man den Sinn des Evangeliumstextes nur durch die Natur entdecken kann, hatte die Tübinger Theologie noch nicht gemerkt.
Die Theologie wurde ihr fremd. Also zur Kirchenmusik. Das war dem Vater, Pastor auf der Ostalb, gerade noch recht. Aber nirgends ist die Konkurrenz so brutal wie in der Musik. Ihr Professor in Stuttgart mußte eine Psychotherapie durch laufen, so verletzte es ihn, wenn er fabelhaft und fehlerfrei spielende Bewerber ablehnen mußte, weil kein Platz mehr frei war. Aber Gabriele schaffte alles. Nur die Praxis nicht. Erstens fand sie¹s schon mal unmöglich, mit einer Begabung Geld zu verdienen. Da wirkte die Theologin nach. Dann der jeden Orgelton überflutende Nachhall in den Kirchen, den sie auch durch sorgsamste Belegung der Bänke mit Polstern von zwölf Sekunden nicht weiter als auf sieben schwächen konnte. Schließlich konnte sie Sterben mein Gewinn und dergleichen einfach nicht mehr spielen, ohne zu grinsen. Also in die Politik. Jetzt Landtagsabgeordnete. Verheiratet. Geschieden. Ganz bei den Grünen.
Anna hatte sich, als diese Erschütterung verebbt war, die Haare, die bis auf die Schultern reichenden, so abschneiden lassen, daß die Ohren ins Freie standen, hatte gesagt, das sei jetzt der Abschied gewesen von allen möglichen Einbildun gen. Und hatte den Umsatz verfünffacht. Und hatte ange fangen, jeden Abschluß zur theatralischen Zeremonie zu machen. Sie wurde bekannt für ihre Kostümansprüche. Viel weniger als ein Hochzeitsniveau durfte es, wenn¹s zum Notar ging, nicht sein. Sie selber trug nur noch Anzüge. Dunkle. Am liebsten Nadelstreifen. Und die Feierlichkeit jeder Prozedur wurde mit Calvados eingesegnet. Sie glaubte inzwischen selber an die Mär, die sie verbreitete: Bei Calvados geschlossene Verträge halten. Ach, Anna, du liebe Lebenslängliche. Sie hatten ohne Calvados geheiratet. Und hatten doch die Zeit der Stürme überstanden.
Aber daß eine Besucherin an dem Tag auf ihn einredete, den Gabriele zum La MettrieGottliebGedenktag erhoben hatte, bewies wieder, was er
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