Der Augenblick der Liebe
wirken läßt, als man sich fühlt. In ihm klang nach, daß die Besucherin gesagt hatte, jetzt sei sie ganz scharf. Wie sie das gesagt hatte. Sie hatte ohnehin einen blühenden Mund. Auch durch genaues Schminken eigentlich nicht fassbar, dieser Mund. Unflätig eigentlich, dieser Mund. Ein Kinder oder gar Babymund. Gerade von der Mutter brust kommend. Und scharf hatte sie mit mehreren f ge sprochen. Und Anna, ohne jeden Ausdruck: Mein Mann trinkt nicht mehr. Weder spöttisch noch bedauernd. Ihr war es gelungen, sachlich zu bleiben. Bewundernswert. Die Besucherin hob das Gläschen zu Gottlieb hin, Anna imitierte dieses Glasheben, beide tranken, Gottlieb sagte: Zum Wohl. Ja, sagte die Besucherin, wo soll ich anfangen! Das Philo sophieDepartment an der University of North Carolina in Chapel Hill erfreue sich eines guten Rufs. Untergebracht in einem der sechzehn Campusse. Caldwell Hall heiße ihr Quartier. Da werde umgebaut seit Monaten, und seit Mona ten hänge eine rötliche Kunststoffröhre aus dem Haus heraus und die Röhre habe oben einen eigenartigen, aber doch ziem lich eindeutig gewölbten Abschluß, dem zuliebe man eigent lich wünscht, das Haus vis á vis mit der entsprechenden weiblichen Ausrüstung zu bestücken. Sie möchte, sobald sie ihre Doktorarbeit beendet hat, schreiben, frei schreiben, sich freischreiben. Zwei Kommilitoninnen wollen sich aus ihren jungen Ehen schon wieder lösen, aber nur, um sich wieder auf Bindungen einzulassen, die genau zu den Verhältnissen führen, aus denen sie sich gerade befreien wollen. Vor dergleichen will sie sich schreibend bewahren. An ihrem Leinenkleid − rostrot mit gelblichen Blumen − hatte sie die drei oberen Knöpfe offen gelassen. Man sah ihren Körper beginnen.
Anna stand auf. Sie habe noch eine Protokollierung, in Pfullendorf. Und gab der Besucherin die Hand. Falls Sie, wenn ich zurückkomme, nicht mehr da sind, sagte sie, und zu Gottlieb, lächelnd: Du wirst ja, denke ich, noch da sein. Die Besucherin produzierte, Anna nachschauend, im sar kastischen Echoton: Pfullendorf! Dann drehte sie sich ent schlossen in Richtung See und sagte Wow, als bemerke sie erst jetzt, daß da zwischen etlichen Stämmen der See her aufgleißte. Und so nah, sagte sie. Bei der Großtante in Langenargen sehe man ihn nur vom oberen Stockwerk aus, zwischen Häusern durch. Und auch noch ein Boot, sagte sie.
NIOBE, sagte Gottlieb. Jetzt sag bloß nicht: Kommen Sie, besuchen wir NIOBE.
Sie sagte, damit könne sie im Augenblick nichts anfangen. Hoffentlich nie, sagte Gottlieb. Und weil sie fragend schaute und dabei ihr Mund förmlich schwoll, sagte er noch: Die ist versteinert, später. Vor Schmerz. Ach, sagte sie. Und das ch beatmete sie so lange, wie sie vorher bei scharf das f beatmet hatte. Ihr Mund blieb nach diesem Achchch halb offen hängen. Dann sah sie aber die zwei Schwäne, also rief sie: Und auch noch Schwäne! Was sollte er darauf sagen? Die Schwäne glitten durchs Bild, als seien sie dazu bestellt.
Erst als sie verschwunden waren, schaltete die Besucherin um. Diesmal zu La Mettrie. Wenn nicht dessen 250. Todestag bevorstünde und wenn nicht doch ein kleiner Erinnerungs eifer sich auch in Deutschland bemerkbar machte, säße sie jetzt wohl nicht hier. Und hätte sie nicht diese Großtante in Langenargen, hätte vielleicht auch der 250. Todestag des Verehrungswürdigen nicht gereicht, sie hierherzubringen. Was sie, das sage sie jetzt schon, zu bedauern hätte. Es gebe doch wirklich nicht mehr als eine Hand voll Menschen in jedem Land, mit denen zusammen man La Mettrie feiern
Weitere Kostenlose Bücher