Der Augenblick der Wahrheit
kleines Lächeln, als er erst ihren großen Zeh in den Mund nahm und dann zärtlich wie ein kleines Kind einen Bonbon jeden einzelnen ihrer wohlgeformten Zehen lutschte.
»Bingo«, sagte ich und wollte gerade wegrobben, um dem Pärchen noch ein wenig Zweisamkeit zu gönnen, ehe ihr Glück und ihr Leben für immer zerstört würden, als in der Tasche neben mir das Handy piepte. Unten am Strand konnten sie das leise Biep unmöglich hören. Sie waren zu weit weg, und das Rauschen des Meeres würde den Ton ersticken, selbst wenn der Wind das elektronische Signal zu ihnen hinuntergetragen hätte.
Aber mächtige Männer sind mächtig geworden, eben weil sie einen sechsten Sinn haben, ein Gespür für Gefahren, für politische Minenfelder. Sie scheinen von vornherein zu wissen, vielleicht zu fühlen, daß etwas an ihrer Aura kratzt, an ihrem Selbstvertrauen rüttelt. Jedenfalls hob er im selben Augenblick, in dem mein Telefon klingelte, den Kopf und schaute mit zusammengekniffenen Augen zu mir empor, als ahnte er einen kurzen Moment, daß dort oben eine Gefahr lauerte. Wie ein Tier, das an einem Wasserloch in der Savanne trinkt und weiß, daß der Leopard auf dem Weg ist, obwohl es ihn weder sehen noch hören oder riechen kann. Wir machten die gleiche Bewegung. Ich angelte in der Tasche nach meinem Handy, während er ebenfalls eines aus dem Korb zog, eine Taste drückte und dabei zu meinem Versteck hinaufschaute. Ich kroch vom Felsrand zurück. Daran hätte ich denken müssen. Natürlich hatte er ein, zwei Leibwächter in der Nähe. Er war zwar nicht sehr vorsichtig, aber wachsam war er trotzdem und alles andere als ein Idiot.
»Hallo«, sagte ich.
Am anderen Ende meldete sich eine Frauenstimme. Sie sprach meinen Namen dänisch aus. Wie man ihn schreibt, Li-me.
»Peter Lime?« Ihre Stimme war klar und sauber, jünger und ohne einen für mich erkennbaren Dialekt. Das Mobiltelefon ist eine wichtige Erfindung. Leuten wie mir hat es das Leben bedeutend leichter gemacht, aber es ist auch ein Fluch.
In Dänemark spricht man meinen Namen, wie man ihn schreibt, und dann bedeutet er ja fast dasselbe wie ›Kleister‹. Ich ziehe es deshalb vor, ihn englisch auszusprechen, lime, wie die kleine bittere, grüne Limone, und hänge ein Apostroph an meinen Namen, wenn es um Lime’s Fotos geht. Im Ausland erkläre ich hin und wieder, daß ich nichts mit Orson Welles und den Kloaken in Wien zu tun habe, sondern daß der Name seinen Ursprung in einer kleinen Stadt in Jütland hat: Lime zwischen Ebeltoft und Randers.
Schon als junger Mann habe ich mich zu distanzieren versucht, indem ich verlangte, man solle meinen Namen englisch aussprechen. Ich wollte nicht wie etwas heißen, was an den Danalim- Kleister erinnerte. Ich habe nur den Namen mit dem Flecken gemein. Aber ich stamme aus einem ähnlichen Kaff. Es ist ein Stäubchen auf der großen Erde, so wie ich ein Stäubchen in den Großstädten war, die ich die meinen nannte. In den Dschungeln, in denen ich am häufigsten meine Beute jagte und erlegte, wenn sie sich am sichersten und einsamsten fühlte. Ich liebte die Anonymität, in die die Großstadt uns Menschen hüllt, nur die berühmten nicht, die zu killen mein Job war, davon lebte ich. Sie konnten nicht immer in ihren Kokons bleiben, sie mußten auch einmal hinaus, und dann war ich zur Stelle.
Vielleicht streben sie auch hinaus, weil sie im tiefsten Innern das Spiel der Katze mit der Maus lieben. Weil sie im Grunde narzißtisch veranlagt sind und ihr Leben ständig bestätigt sehen möchten. Vielleicht fürchten sie in Wirklichkeit am allermeisten, daß ihnen niemand mehr auflauert, denn das bedeutet, daß sie nicht mehr interessant sind, sondern ihre Viertelstunde im verführerischen Schein des Blitzlichts schon hinter sich haben. Es ist für Tausende von Menschen auf unserer medienberauschten Erde wie ein Narkotikum.
»Wer spricht da?« fragte ich.
»Clara Hoffmann. Polizeilicher Nachrichtendienst, Kopenhagen«, sagte sie.
»Verdammt noch mal, wo haben Sie die Nummer her?« sagte ich, während ich rückwärts robbte, bis ich sicher war, daß ich mich aufrichten konnte, ohne vom Strand aus gesehen werden zu können. Das T-Shirt klebte am Rücken, als ich rasch zu meinem Auto hinunterging. Die Kameras schlugen mir gegen den Hüftknochen, während ich meine Schritte beschleunigte.
»Das ist doch egal. Haben Sie einen Moment Zeit?«
»Nein, habe ich nicht.«
»Es ist ziemlich wichtig.«
»Ja, bestimmt, aber ich habe keine
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