Der Augenblick der Wahrheit
brauchte für die fünfzig Kilometer fast zwei Stunden. Zweimal gab es einen Stau aufgrund von Straßenarbeiten, so daß es schon auf drei Uhr zuging, als ich in Llanca ankam. Die Stadt briet in der Siestahitze, und alles war geschlossen. Das heißt, die Touristen stolzierten draußen umher, während die Einwohner zu Hause beim Mittagessen oder vor dem Fernseher saßen. Mein Hotel lag unten am Hafen und hatte einen schönen Naturstrand.
Er war von Familien bevölkert, die sich im gelben Sand sonnten oder in dem stillen grünen Wasser badeten. Die Stimmen drangen wie durch weiche Watte zu mir herüber. Sonnenöl wurde mit sanften Händen auf einem Rücken verteilt. Ein Vater half einem kleinen Kind vorsichtig mit einem Schwimmring.
Eine Mutter schimpfte mit einem großen Jungen, der seine kleine Schwester geärgert hatte. Ein Halbwüchsiger kraulte mit platschenden Zügen, um sich vor ein paar Gören mit Zahnspangen und Hormonen in jeder Faser ihres Körpers in Positur zu setzen. Ein Pärchen küßte sich. Ein Mann blätterte träge die Seiten eines Romans um. Ein Liebespaar erhob sich und ging eng umschlungen zu seinem Hotel hinauf. Die Nachmittagsliebe wartete.
Ich war durstig, verschwitzt und hungrig. Es gab eine Zeit, in der ich über das Familienglück am Strand die Nase gerümpft hätte. Über all diese Väter, Mütter und Kinder, die rotfleckig zusammensaßen und an sich selbst genug hatten. Es gab eine Zeit, in der ich ein kleines bißchen neidisch gewesen wäre, obwohl ich es nie zugegeben hätte, weder vor anderen noch vor mir selber. Aber jetzt ging es mir gut mit den Freuden und Sorgen der Familien. Ich hatte ja selber eine. Ich war für meinen Wahlspruch bekannt gewesen, daß Wölfe am besten allein leben und jagen, ich habe ihn als den einzig richtigen empfunden. Ich hatte geglaubt, daß es einen Unterschied zwischen allein und einsam gibt und daß ich zwar allein war, aber nicht einsam.
Doch mittlerweile liebte ich das Leben mit meiner Familie und hatte verstanden, daß ich ebenso allein wie einsam gewesen war.
Von anderen gebraucht zu werden erfüllte mich mit tiefer Befriedigung. Daß andere von mir abhängig waren und daß meine Taten die Menschen, die mir am nächsten standen, beeinflussen würden und für sie von großer Bedeutung wären.
Meine Familie. Das nun sagen zu können, machte mich schon glücklich. Daß das Geld, das ich verdiente, nicht für mich allein war, sondern auch zum Wohl und Glück von zwei anderen Menschen beitrug.
Ich parkte den Jeep in einer Nebenstraße am Hotel, das an der Strandpromenade lag. Bevor ich meinen Schlüssel holte, trank ich im Stehen ein großes Glas frisch gepreßten Apfelsinensaft in der Bar und aß eine feine, luftige Tortilla mit kleinen Kartoffel-und Zwiebelstücken. Die Bar lag neben dem Hotel. Sie war wie so viele andere spanische Bars, mit einem Fernseher, der in einer Ecke in voller Lautstärke röhrte, mit Papierabfall und Kippen auf dem Boden, mit Sperrholztischen und dem Duft nach Öl und Knoblauch, mit dem behaglichen Klirren und Zischen und Klappern von Tassen und Gläsern und der Kaffeemaschine als musikalischer Berieselung. Ein paar alte Reiseplakate von der zerklüfteten Küste der Costa Brava und den Mannschaften des FC Barcelona schmückten die Wände.
Auf mehreren dieser Fußballplakate lächelte der siegessichere Michael Laudrup jener Jahre, in denen er das Team von Meisterschaft zu Meisterschaft geführt hatte. Beim Mittagessen saßen überwiegend Einheimische. Ich rauchte eine Zigarette und trank einen doppelten Kaffee, während sich mein Adrenalinspiegel senkte und ich langsam zur Ruhe kam. Ich plauderte mit dem Barkeeper ein wenig über Fußball. Er hatte in seiner Mittagszeitung von Barcelonas Talfahrt gelesen. Der Klub lag nicht mehr an erster, sondern nur noch an dritter Stelle.
In Katalonien ist das eine Talfahrt. Barca muß Meister werden, sonst ist die Mannschaft eine Niete. Ich selber bin Real-Madrid-Fan, aber wir sprachen darüber in aller Friedfertigkeit. Ich versuchte mich zu beruhigen. Nach einem Hit ging es mir wie nach zwei Stunden bei den Japanern im Karatestudio in der Calle Echégaray. Ich war erfrischt, aufgedreht und gleichzeitig erschöpft. So viel Planung, so viel Vorbereitung, so viel Logistik, und trotzdem lagen Erfolg und Fiasko nur ein paar Hundertstelsekunden auseinander. Film oder Kamera konnten irgendeinen Fehler haben. Womöglich hatte ein mikroskopisches Sandkorn im Verschluß die Aufnahme
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