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Der Augenblick der Wahrheit

Titel: Der Augenblick der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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einsame Nachtreisende, die aus Gott weiß welchem Grund die alte, gebührenfreie Landstraße der anonymen, leeren, schnelleren Autobahn vorgezogen hatten. Ich war übermüdet und deshalb überwach, und eigentlich tat es mir leid, als ich etwa zwanzig Kilometer vor San Sebastian von der Straße abbog und das Motorrad die Kurven der sanften Berge bis in die Höhen von Arnelias und meinem Refugium hinaufzog. Die Reise war das Wichtigste, die Bewegung. Das Ziel war im Grunde eine Enttäuschung.
     
    Das Haus lag im Frühnebel, als wäre nichts geschehen. In der Ferne wölbten sich die Berge massiv wie Elefantenrücken im zarten Morgenlicht. Zwar lag unser Haus auf einem Höhenzug, aber die grünen Hügel erinnerten eher an eine österreichische Alm. Es war ein altes Haus aus Feldsteinen, das einst einem baskischen Schafhirten gehört hatte. Ich hatte es Anfang der achtziger Jahre in einem Anfall von Leidenschaft gekauft.
    Amelia hatte sich gleich beim ersten Anblick darein verguckt, da war ich noch nicht ganz sicher, ob sie auch mich liebte. Sie war aus der Stadt, deshalb liebte sie das Land. Ich stammte vom Land und liebte die Anonymität und den Rhythmus der Großstadt.
    Sie ließ die großen rechteckigen Außenmauern aus graubeigem baskischem Granit stehen und riß innen fast alles nieder, nur der alte Herd durfte stehenbleiben. Dann baute sie innen alles wieder auf und schuf ein lebendiges Haus mit einer Eßküche als Zentrum und genug Räumen, um zwanzig Personen zu beherbergen. Sie installierte Wasser, Strom und Elektroheizung, und alles war in rustikalen, natürlichen Materialien gehalten. Oscar meinte, es sei ein Haus, das alle Madrider Architekten liebend gern in Hola oder anderen Wochenblättern präsentieren würden, und wir fühlten uns darin wohl. Wir hatten es zusammen aufgebaut. Es lag auf einem Hügel, und durch das Tal sah man auf die Bucht von Biskaya, während die Berge hinter uns die Landwinde abhielten. Wir hatten zwei Stockwerke und einen gut gefüllten Keller für Wein und Käse, aber wenn wir zu dritt waren, benutzten wir nur das Erdgeschoß und wohnten mehr oder weniger in der Küche, wo der schwarze und beruhigende Herd stand und Wärme gab, sowohl im kalten baskischen Winter wie im verräterischen Sommer, dann konnte nämlich die Sonnenwärme von einem kalten Dunst erstickt werden, wenn der Wind von Norden mit dem atlantischen Seenebel kam.
     
    Ich war todmüde, als ich die letzten paar hundert Meter zum Haus hinauffuhr und der Kies unnatürlich laut unter den Reifen knirschte. Das Nachbarhaus lag noch einige Kilometer weiter oben, wo Arregui wohnte, ein baskischer Schafhirt. Im Widerspruch zu allen Bestimmungen, Verordnungen und Rationalisierungen der EU hütete und hegte er weiterhin seine Schafe, machte Käse aus ihrer Milch und räucherte ihre Keulen und verkaufte sie mit soviel Gewinn, daß er zumindest davon leben konnte. Er hätte zwar mehr herausschlagen können, wenn er alles hingeschmissen und sein Wohngebäude an Touristen vermietet hätte, aber Schafe waren zusammen mit der baskischen Unabhängigkeit sechzig Jahre lang sein Leben gewesen und für beides würde er in den Tod gehen. Er hatte im Alter von zehn Jahren als Hirte angefangen, und im selben Jahr war ein Onkel in einer Auseinandersetzung mit der Guardia Civil erschossen worden. Schafe und Nationalismus waren für ihn eins. Jeden Monat schickte ich ihm einen Umschlag mit Geld, damit er ein Auge auf das Haus hatte, für trockenes Feuerholz sorgte und Strauchdiebe fernhielt. Er hätte es auch umsonst getan, aber ich habe es ihm durch die Behauptung schmackhaft gemacht, ich könne es absetzen und damit die Zentralmacht um ein paar Steuergroschen behumpsen. Er verstand es so, als wäre es für mich gratis und für die Kastilianer teuer, und das freute ihn. Er war katholisch, konservativ und glühender Nationalist und sprach nur ungern spanisch. Aber da ich Ausländer war und Amelia es ihm angetan und er später an Maria Luisa einen Narren gefressen hatte, akzeptierte er, daß wir nie Baskisch lernen wollten. Er war im modernen Europa ein Anachronismus, ein Saurier, der trotz seines Alters noch immer Feldsteine hob, Baumstämme spaltete und bei den jährlichen Sommerwettkämpfen mit nackten Fäusten Pelota spielte. Sein ältester Sohn wurde 1972 unter General Franco von der Staatsmacht garrottiert. Sein zweiter Sohn Tómas, der mein Freund geworden war, hatte drei Jahre lang in der Todeszelle gesessen, bis 1977 die Amnestie kam.

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