Der Augenblick der Wahrheit
wenn er die Schafe ins frische Gras hochziehen ließ. Mit einem Pfiff nach den Hunden war er weg.
Ich blieb sitzen und sah sie zu kleinen Pünktchen werden, als sie den grünen Berghang hinaufstiegen, der schließlich in dem großen Massiv der Pyrenäen enden würde.
Dann errichtete ich einen Scheiterhaufen im Garten und verbrannte alles, was mich an Amelia und Maria Luisa erinnerte, ihre Kleider, die Fotos von ihnen, den ewigen Kalender, das Strickzeug, die Spielsachen, die Puppe, das Bild der Freundin.
Ich konnte weder ihren Duft noch meine Erinnerungen an sie verbrennen, aber ich ertrug den Gedanken nicht, in einem Haus zu schlafen, in dem es noch konkrete Erinnerungsstücke gab.
Mir war egal, was Arregui sagte. Er hatte unrecht. Es waren Gespenster im Haus.
Ich fuhr nach San Sebastian, um mich mit Tómas zu treffen.
Die Stadt an der Concha-Bucht tauchte vor meinen Augen auf und verschwand wieder, als ich in gemäßigtem Tempo durch die Kurven glitt. Der Tag war warm, und die Promenade und der Strand waren voller Menschen. Es war eine weiße, schöne Stadt, die ich sehr mochte. Aufgrund des Terrorismus war das Baskenland in einer wirtschaftlichen Krise, aber San Sebastian sah man das nicht an. Die Leute waren gut gekleidet, und die Bars und Restaurants der Innenstadt brummten vor Leben. Die Basken lieben das Essen. Das Meer schenkt ihnen eine reichhaltige Küche, die das Französische und Spanische vereint.
Tómas war noch nicht da, so daß ich mich an die Bar stellte und Tapas aß und eine Cola trank. Es gab Tintenfisch, Krabben mit Ei, Sardinen, Schinkenstücke auf frischgebackenem Brot.
Ich stand in einer Ecke nahe der offenen Tür und konnte Tómas sehen, ehe er mich bemerkte. Er war nur wenig jünger als ich, aber die Jahre hatten es gut mit ihm gemeint. Er hatte immer gesagt, im Gefängnis zu sitzen sei gesund. Eine Menge Bewegung, fettarme Kost und null Alkohol. Er hatte das breite Gesicht seines Vaters, aber sein Körper war schlank, und seine Hände waren feingliedrig und lang. Er hatte graue Strähnen im kurzen, dichten Haar, und die schmale Titaniumbrille ließ ihn wie einen gepflegten, gutsituierten Banker aussehen, aber er verdiente sein Geld mit Computersoftware für Kreditfirmen und größere Unternehmen. Dasselbe Gehirn, das ihn in den Siebzigern zu einem souveränen Strategen der ETA gemacht hatte, verschaffte ihm nun ein gutes Einkommen als Problemspezialist. Tómas erkannte die Zusammenhänge und war der Entwicklung oft drei, vier Züge voraus. Ich hatte ihn 1972 kennengelernt, ein paar Jahre, bevor er festgenommen und später wegen terroristischer Betätigung zum Tode verurteilt worden war. Wir hatten uns zufällig in San Sebastian auf der Straße getroffen und sogleich einen guten Draht zueinander gefunden. Er war ein guter Informant, aber bis ich von seiner Festnahme las, war ich mir über seine tiefe Verstrickung in die ETA nicht im klaren gewesen. Ich besuchte ihn mehrmals im Gefängnis und half ihm, als er mit den anderen politischen Gefangenen amnestiert wurde.
Seither waren wir Freunde. Er hatte meine Auf-und Abstiege miterlebt. Als er mich bemerkte, hellte sich sein Gesicht auf, er lächelte breit, und wir umarmten uns lange, ehe wir nach hinten durchgingen, um die späte Mittagsmahlzeit einzunehmen.
Ich trank Cola. Tómas trank Wein, und während ich im Essen herumstocherte, aß er mit gutem Appetit einen großen Salat und dann merluza a la vasca – Dorsch in einer würzigen, schmackhaften Soße mit Gemüse. Wir sprachen über Gott und die Welt und vermieden lange das eigentliche Thema. Das war am Telefon schon längst bis ins letzte besprochen worden. Auch wenn er Junggeselle war, hatte er meinen Verlust verstanden. Im Untergrund hatte er selbst viele verloren, die in seinem Leben etwas gegolten hatten. Aber er hatte richtig gewählt, als er die Waffen niederlegte und neu anfing. Ich wußte, daß er die junge Generation von ETA-Aktivisten verachtete, aber als Baske bis ins Mark konnte er sich nie dazu überwinden, sie zu verurteilen oder gar anzuzeigen. Er hielt ihre Politik und ihre Methoden für falsch. Aber sie waren Landsleute und erst dann Terroristen.
Und ich wußte, obwohl er nicht mehr aktiv war, hatte er weiterhin seine Verbindungen und Quellen. Man konnte sich auf ihn verlassen. Er war als inoffizieller Vermittler zwischen der alten sozialistischen Regierung und der ETA im Gespräch gewesen. Er hatte sich vorgetastet und die ersten Kontakte geknüpft. Für
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