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Der Augenblick der Wahrheit

Titel: Der Augenblick der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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Glasvase. Mir war klar, worauf er hinaus wollte, denn er wußte, daß ich auf dem Friedhof keinen Trost fand, aber er forderte mich auf, auf Wiedersehen zu sagen.
    Oft dachte ich nicht daran zu essen, aber Dona Carmen hatte einen Salat mit Serranoschinken gemacht, den ich auf der schattigen Veranda aß, während ich die flimmernde Hitze über den Bergen betrachtete. Ich fühlte mich wie immer hohl und unglücklich und vermißte meine Frau und mein Kind mit einer Kraft und einem körperlichen Schmerz, den ich nicht für möglich gehalten hatte. Sie fehlten mir ständig. Den ganzen Tag. In regelmäßigen Abständen steckte das Ungeheuer seinen Kopf hervor, mit einer Macht, die so weh tat, daß ich den Verstand zu verlieren glaubte.
    Ich machte Kaffee, packte einen Rucksack mit Wäsche und schnallte ihn aufs Motorrad. Die Zikaden sangen, und die Luft zitterte, als würde sich das Zirpen der Zikaden in ihr spiegeln.
    Es duftete nach den Tomatenblüten auf Don Alfonzos Beet. Aus seinem Garten, den er vor seiner Abfahrt ausreichend gewässert hatte, zog eine milde Kühle herauf. Ich verschloß das Haus, schwang mich auf die Honda und rollte langsam, mit der Orchidee auf dem Schoß, zum Friedhof.
    Die weißen Kreuze und hohen Marmorsteine färbten sich in der beginnenden Abendsonne allmählich rot. Wir hatten einen einfachen Stein mit ihren Namen und den beiden entscheidenden Jahreszahlen gewählt: Geburt und Tod. Sonst nichts. Don Alfonzos Orchidee stand rechts. Ich ließ mich links davon nieder, stützte mich auf ein Knie und hatte den brennenden Wunsch, beten oder weinen zu können, aber das geschah nie. Es gab keine Stimmen, keinen Gott, keine Offenbarung, keine Erklärung, keine innere Zwiesprache mit den Verstorbenen. Ich hätte Wut auf ihre Mörder empfinden müssen, aber an diesem Tag hatte ich nur ein nagendes Gefühl der Schuld und eine schwelende, irrationale Wut auf die, die mich allein und einsam zurückgelassen hatten.
    Ich folgte dem Verkehr rund um Madrid und drehte auf, als ich auf die alte Landstraße Richtung Norden kam, die ich der Autobahn vorzog. Ich kannte sie wie meine Westentasche. Ich war sie x-mal gefahren. Als Pressefotograf auf dem Weg zu den großen baskischen Demonstrationen für die Selbstverwaltung Ende der Siebziger und später zusammen mit Amelia und Maria Luisa auf dem Weg in unser Sommerhaus bei San Sebastian.
    Der Abend brach an, und zu meiner Linken versank die Sonne in einem rauschenden Rot, das von den Bergen herab über die Ebene kroch. Wie schon so oft war es ein ebenso hinreißendes wie merkwürdiges Erlebnis, eine spanische Großstadt zu verlassen und aufs Land zu kommen. Mitten in Madrid vergißt man, daß Spanien ein riesiges leeres Land ist, wo sich der Horizont endlos hinzieht und in Bergen oder wogenden Hügeln und sonnenverbrannten Feldern endet. Der Verkehr wurde weniger. Meist waren es Kleinwagen und stinkende ältere Laster, deren Fahrer die Autobahnmaut nicht zahlen wollten, aber die Honda schnurrte in sanften Bögen an ihnen vorbei. Die Sonne ging unter, und ich fühlte die immer angenehmere Kühle des Windes in meinem Gesicht, während die Sonnenröte in ein tiefrotes Feuer überging, das mir das Gefühl gab, durch ein Meer von Blut zu fahren.
     
    8
    Ich fuhr durch die leichte, laue Nacht und hielt nur zum Tanken an. In der Nacht zu reisen heißt, in der Stille zu reisen, nur mit dem monotonen Grollen des Motors in den Ohren und einer verbindenden Einsamkeit mit blassen jungen Männern an ruhigen Tankstellen, die dir wortlos den Kaffee über die Theke reichen. Wenn man mit seinem eigenen Leben nicht so beschäftigt wäre, könnte man aus ihren einsilbigen Antworten, die sie einem geben, wenn man einen Kaffee oder Wasser oder achtzehn Liter Benzin bestellt, allerhand Geschichten heraushören. Sie standen da in der Einsamkeit der Nacht, weil sie geschieden worden waren, keine andere Arbeit fanden, nicht schlafen konnten oder unglücklich verliebt waren. Aber eigentlich verschwendete ich keinen Gedanken an sie. Ich fuhr nur. Ich wuchs mit der Honda zusammen. Sie schnurrte zwischen meinen Beinen und ließ meinen Hintern erst einschlafen, dann schmerzen. Ich setzte den Helm auf, als der sternenklare Nachthimmel nach Mitternacht allmählich die Wärme des Bodens aufsog. Die einzige Gesellschaft waren qualmende alte LKWs und ein einzelner Tourist, der sich verfahren hatte und sich mit Schnorchel und Badetüchern auf der Hutablage nach Norden durchschlug, sowie einige wenige

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