Der Augenjäger / Psychothriller
meine Augen schmerzten vor Anstrengung, die Tränen zurückhalten zu wollen. Dennoch kämpfte ich an vorderster Front, aufs äußerste bereit, mein Radio und damit meinen Schutzwall zu verteidigen, den ich um meine Halluzinationen aufgebaut hatte – als sich Alina plötzlich, wie aus dem Nichts, in meiner zerstörten Welt materialisierte.
Ich weiß nicht, wie lange sie schon neben meinem Rollstuhl gehockt hatte, als mir ihre Anwesenheit bewusst wurde. Ich weiß auch nicht, wie lange sie schon auf mich eingeredet hatte, bevor ich aus der Kakophonie der Geräusche, die mich umgaben, einen verständlichen Satz herausfiltern konnte.
»Du musst aufwachen«, brüllte sie mich an. »Wach auf. Ich habe Nachrichten von Julian.«
20. Kapitel
Alina Gregoriev
J etzt kennen Sie also endlich die ganze Wahrheit«, sagte Roth und stoppte mit einem Mausklick die digitalisierte Sprachaufnahme auf seinem Computer. Sie saßen wieder in dem Büro des Psychiaters, nachdem Alina es im Krankenzimmer nicht länger ausgehalten hatte. Zorbachs reglose, viel zu dünne Hand zu drücken, ohne einen Hauch Lebenskraft darin zu spüren, traf sie fast noch schlimmer als sein Tod. Der hätte zumindest bedeutet, dass seine Qualen ein Ende gefunden hatten. Jetzt musste sie nicht nur seine Wiederauferstehung verarbeiten, sondern auch die Tatsache, dass ihm in den letzten Wochen womöglich Schlimmeres widerfahren war, als zu sterben.
»Können Sie es noch einmal abspielen?«, bat Alina, und Roth tat ihr den Gefallen. Sie hörten sich nun schon zum vierten Mal die Aufzeichnung des Telefonats an, die Roth zu Therapiezwecken von der Polizei zur Verfügung gestellt worden war. Sobald Zorbach dazu in der Lage wäre, sollte er mit Hilfe des Bands die letzten Sekunden im Leben seines Sohnes aufarbeiten können.
Wie schon dreimal zuvor, zuckte Alina an der Stelle zusammen, an der Frank Lahmann ebendie Zahlen sagte, die der Unbekannte ihr auf der Straße ins Ohr geflüstert hatte.
»Dreizehn. Zehn. Einundsiebzig.«
Also war es doch keine Einbildung gewesen, wie sie sich hatte weismachen wollen. Sie fröstelte bei dem Gedanken daran, dass die Stimme des Mannes, die ihr so bekannt vorgekommen war, möglicherweise mit der identisch war, die gerade auf dem Tonband ihre perversen Forderungen stellte:
»Liebst du Julian mehr als dein Leben?«
»Ja.«
»Dann beweise es.«
»Ich soll mich erschießen?«
»Ihr Freund hatte keine andere Wahl«, kommentierte Roth flüsternd, während die Aufnahme weiterlief.
»Setz den Lauf der Waffe auf dein linkes Auge, und drück ab. Sobald ich deine Leiche in den Nachrichten sehe, lasse ich Julian frei. Solltest du aber zu lange zögern, hast du deinen Joker verspielt, und ich werde Julian ersticken und ihm das linke Auge entfernen. Ach, und noch was. Sollte ich auch nur das geringste Gefühl haben, dass du bluffst …«
»Verstehen Sie jetzt unser Täuschungsmanöver?«, fragte der Psychiater in eine Pause hinein, die Frank beim Sprechen gelassen hatte. Alina nickte.
»… sollte ich aus irgendeinem Grund Zweifel an deinem Tod haben, werde ich Julian hinrichten, und du wirst seine Leiche niemals finden. Dann wirst du nicht deinen Sohn, sondern nur noch seine seelenlose Hülle suchen, und es wird nichts geben, was du begraben kannst. Noch zappelt der Fisch in meinem Netz. Noch kann ich der Polizei Hinweise geben, wie sie Julian finden. Hinweise, die sein Leben retten. Hast du mich verstanden?«
Alina begann zu schwitzen und hatte auf einmal das dringende Bedürfnis, sich am ganzen Körper zu kratzen. Sie hob die Hand, und Roth verstand das Signal. Er stoppte die Wiedergabe.
»Sie wissen, dass alles umsonst war, nicht wahr?«, fragte sie.
»Was meinen Sie damit?«
»Die Scharade ist aufgeflogen. Sie müssen Zorbach nicht länger unter Verschluss halten. Jemand hat gestern seinen Sarg aufgebrochen, und wir wissen, wer dieser Jemand war.«
Roth sog hörbar die Luft ein. »Nein, das war mir nicht bekannt. Aber ich habe damit gerechnet. Die Polizei wartet jetzt schon seit sieben Wochen auf ein Lebenszeichen von Julian. Ich persönlich rechne nach so langer Zeit nicht mehr mit einer guten Nachricht. Es wäre ja auch ein Wunder gewesen. Der Kreis der eingeweihten Personen war zwar klein, aber auch die Ärzte im Bundeswehrkrankenhaus und das OP -Personal wussten natürlich, dass Herr Zorbach damals nicht auf ihrem Operationstisch gestorben ist.«
Alina öffnete die rechte Hand, in der sie ein zerknülltes Taschentuch
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