Der Augenjäger / Psychothriller
hier. Sie müssen mich für einen völlig gefühllosen Tölpel halten.«
Alina rempelte gegen ein schmales Einzelbett, tastete sich am Edelstahlgeländer entlang auf die Geräuschquelle zu.
Sie orientierte sich an einem eisigen Luftzug, der nur von einem geöffneten Fenster kommen konnte und der mit der kalten Seeluft noch etwas anderes transportierte.
Schweiß.
Ein von Angst, Sorgen und Stress genährter Körpergeruch, den kein Bad dieser Welt wegwaschen, kein Parfum übertünchen konnte, so sehr hatte er sich in jede einzelne Pore gefressen. Doch unter den Ausdünstungen dieses kranken Menschen lag ein unverkennbarer, unverwechselbarer Eigengeruch.
Alina kniete sich nieder und griff nach der schlaffen Hand, die seitlich neben dem Stuhl baumelte wie ein nutzloses Gewicht an einem abgestorbenen Arm. Sie stöhnte auf, glaubte, innerlich zerplatzen zu müssen, als ihr Verdacht zur Gewissheit wurde. Er war kaum wahrnehmbar, aber sie vergaß nie den Duft eines Menschen, mit dem sie geschlafen hatte.
Der Schock der Erkenntnis traf sie wie ein Rammbock und durchbrach ihren emotionalen Panzer. Sie tastete die Gesichtszüge mit den Fingerspitzen nach, fühlte die warme, rissige Haut, die eingefallenen Wangen, die aufgesprungenen, vertrauten Lippen und begann zu weinen.
»Wieso?«, brüllte sie mit einer ihr selbst fremden Stimme.
»Ich kann Ihnen das alles erklären«, versuchte Roth sie zu beschwichtigen, aber seine Worte wurden von Alinas Gebrüll in der Luft zerrissen. »Was macht ihr Schweine hier mit ihm?«
Der Patient auf dem Stuhl bewegte sich derweil keinen Millimeter. Alexander Zorbach starrte regungslos aus dem Fenster auf den vereisten See hinaus und lauschte konzentriert dem unverständlichen Lärm seines Transistorradios.
18. Kapitel
Alexander Zorbach (Ich)
I rgendjemand hat einmal gesagt, das Wesen der Geisteskrankheit bestünde in ihrer Leugnung. Je verwirrter ein Patient sei, desto mehr bestreite er das. So gesehen war ich in psychischer Hinsicht völlig gesund. Ich wusste sehr wohl, dass mit mir etwas nicht stimmte, was angesichts der Tatsache, dass ich mit leerem Blick und stumm vor mich hin sabbernd in einem Rollstuhl saß und 105PunktWahnsinn hörte, keine diagnostische Meisterleistung darstellte. Nicht nur in meinem Transistorradio, sondern auch in meinem Kopf hatten sich einige Frequenzen verdreht. Ich war von der Normalität etwa so weit entfernt wie meine Krankenkasse von der Übernahme der Folgekosten meiner misslungenen Selbsttötung.
An jenem Tag allerdings, als ich Alina zum ersten Mal wiedersah, sieben Wochen nach meiner Verzweiflungstat und nur zehn Tage, nachdem man mich von den Drainageschläuchen entkoppelt hatte, war ich zu dieser nüchternen Selbsteinschätzung freilich nicht in der Lage. Was ganz sicher auch an dem 9-Millimeter-Projektil lag, das mein Gehirn durchschlagen hatte.
Hätte man mir damals einen Stift in die Hand gedrückt und mich gebeten, meine innere Erlebniswelt zu zeichnen, hätte ich vermutlich eher den Schreibblock gegessen, als mit wirren Handbewegungen eine funkensprühende, rot glühende Wolke gekrakelt, die meine Kopfschmerzen symbolisieren sollte. Mein Schädel war der Probenraum der lautesten Rockband der Welt. Wenn ich Glück hatte, hörte ich nur das Dröhnen ihrer Verstärker oder die Rückkoppelung der Mikrophone. Aber meistens warf ein sadistischer Schlagzeuger seine Becken gegen meine Schädeldecke und freute sich, wenn mir ihr Scheppern die Tränen in die Augen trieb – so wie in dem Moment, als Alina plötzlich in mein Krankenzimmer stürmte.
Später sagte man mir, sie habe sich niedergekniet und weinend meine Hand gehalten, was ich selbst dann nicht gespürt hätte, wenn mein Arm nicht völlig taub gewesen wäre. Außerdem hatte die Bandprobe in meinem Kopf gerade erst begonnen, und die Jungs spielten »Sweet pain of mine«.
Ich konnte also nicht hören, wie Alina Dr. Roth anbrüllte, er solle ihr erklären, wie es mir gelungen war, von den Toten aufzuerstehen. Dabei war die Begründung denkbar einfach. Nachdem ich sieben Minuten zu spät in das Versteck des Augensammlers gekommen war, wollte ich gerade Frank Lahmanns Anweisungen befolgen und hatte die Waffe schon auf meinem Auge plaziert, als Stoyas Männer die Tür des Frachtraums aufsprengten, um mich herauszuholen.
Die Explosion ließ mich vor Schreck zusammenzucken, die Waffe verrutschte, und das Geschoss drang nicht durch mein linkes Auge, sondern einige Zentimeter höher, grub
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