Der Augenjäger / Psychothriller
sich durch die Knochenschicht meiner Stirn und glitt wie Butter durch Teile des Vorderhirns und Schläfenlappens. Von da an lief die Kugel in fast senkrechter Bahn abwärts am Stammhirn und den großen Arterien vorbei und durchtrennte abschließend das Muskelgewebe meines Nackens, wo sie wieder austrat. Als die Polizisten sich über mich beugten, war ich bereits komatös. Leider trafen die Beamten des Sondereinsatzkommandos einige schwerwiegende Fehlentscheidungen. Die erste war, mich wiederzubeleben, die zweite, mich mit dem Hubschrauber in die Neurochirurgie eines Bundeswehrkrankenhauses zu fliegen. Glücklicherweise hatte Stoya während der ersten Notoperation die Aufzeichnung meines Handys abgehört und begriffen, weshalb ich sterben wollte. Er machte ausnahmsweise das einzig Richtige und ließ mich in den Nachrichten offiziell für tot erklären. Dem Augensammler sollte vorgespiegelt werden, ich hätte meinen Teil der Abmachung eingehalten und er könne Julian freilassen. Um die Täuschung perfekt zu machen, wurde ein öffentliches Begräbnis organisiert, während ich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion nach Schwanenwerder überführt wurde.
All das hatte ich nach und nach sowohl von Roth als auch von Stoya erfahren, den einzigen Menschen, die mich besuchten. Ich hätte also Alinas Fragen beantworten können, wenn ich in diesem Augenblick nicht viel zu sehr damit beschäftigt gewesen wäre, meinen Verstand zu verlieren.
Und meinen Sohn zu verjagen.
19. Kapitel
E s ist nicht ganz einfach zu erklären, weshalb ein Patient, der bereits an einer inneren Lärmquelle zugrunde geht, ein verzerrtes Radio auf volle Lautstärke dreht. Aber eine geistige Störung ist nie einfach zu erklären, wie ich gelernt habe. Zumindest keinem, der bei klarem Verstand ist.
Mir selbst erschien mein Verhalten seit dem ersten Besuch meines Sohnes völlig logisch. Wie sonst hätte ich ihn wieder loswerden können?
Es geschah zum ersten Mal an dem Tag, als meine Hirnschwellung so weit zurückgegangen war, dass ich mein Bett verlassen durfte. Weit war ich seitdem nicht gekommen. Der Abstand zwischen meinem Bett und dem Rollstuhl vor der verspiegelten Fensterscheibe betrug nicht einmal zwei Meter. Es war halb sieben Uhr abends, die Visite war gerade durch, Dr. Roth hatte meinen Kopfverband kontrolliert und mir ein neues Medikament gegeben, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnern konnte. Der Arzt war keine Minute weg, als die Pille schon ihre Wirkung tat. Die Band probte ihren Trash-Metal-Song nur noch auf Zimmerlautstärke, meine Schmerzen wurden schwächer.
In dieser Sekunde begann der Alptraum. Julian kletterte zum ersten Mal durch das Fenster.
Bislang hatte ich immer nur seine Stimme gehört, schon eine geraume Zeit lang und in regelmäßigen Abständen. Julian nutzte die wenigen Pausen der Band, um ans Mikrophon zu treten und mich mit hoffnungsvollen Botschaften zu quälen:
»Ich bin nicht tot. Ich lebe nur in einer anderen Welt. Du musst einfach nur einschlafen, Papa. Dann sind wir wieder zusammen. Wieder vereint.«
Schon an seiner Wortwahl merkte ich, dass hier nicht mein Sohn, sondern mein Unterbewusstsein zu mir sprach. Nicht Julian, sondern ein feiger Teil meines Ichs wollte den einfachen Weg gehen und sterben. Mit der Zeit wurde seine Stimme lauter und steigerte sich mitunter zum dominierenden Element meines Schmerzes:
»Wieso hörst du nicht auf mich, Papa? Komm zu mir, oder hast du mich etwa nicht mehr lieb?«
Zugegeben, seine Bitte war verlockend. Wie gerne hätte ich meinen Widerstand aufgegeben und mich nicht weiter mit beiden Händen an mein Leben geklammert. In einem lichten Moment, kurz vor der zweiten Operation, hatte ich Stoya gefragt, ob der Augensammler sein Wort gehalten habe. Meine Worte mussten geklungen haben, als hätte ich meine Zunge verschluckt. Aber der Kommissar wusste, dass es in meinem Zustand keine andere Frage geben konnte, die mich interessierte, und hatte nur bedauernd den Kopf geschüttelt.
Der Augensammler hatte mich angelogen. Oder meine Tarnung war aufgeflogen. Was es auch war, es war gleichgültig. Alles war gleichgültig, denn Julian war nicht mehr am Leben.
Von diesem Augenblick an wusste ich, dass ich nicht aufgeben durfte. Dass ich der imaginären Stimme meines Sohnes widerstehen musste. Ein Trieb war in mir erwacht, stärker noch als der Wunsch nach einem gnädigen Tod: der Trieb der Rache.
Mein Sprachzentrum war gestört, weite Teile meiner rechten Körperhälfte taub, und ohne
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