Der Augenjäger / Psychothriller
minutenlang völlig wirr auf die leblose Hülle im Rollstuhl eingeredet. Hatte ihn angeschrien, er müsse aufwachen.
»Über was für Nachrichten verfügen Sie denn in Bezug auf Julian?«, fragte Roth.
Alina schüttelte den Kopf. »Das geht Sie nichts an, Doktor. Das geht niemanden etwas an, außer Zorbach selbst. Und ich fürchte, der kann mit dem, was ich ihm zu sagen hätte, gerade nicht sehr viel anfangen.«
»Vermutlich haben Sie recht«, sagte Roth, der plötzlich neben ihr stand und ihr die Hand auf den Unterarm legte. »Aber wieso lassen Sie es nicht auf einen Versuch ankommen?«
21. Kapitel
E ine Stunde später betrat Alina am S-Bahnhof Wannsee eine Kneipe und bestellte ein stilles Wasser, mit dem sie rasch zwei Aspirin hinunterkippen wollte. Ihre Schmerzen waren ganz sicher nicht mit denen Zorbachs zu vergleichen, immerhin hatte ihr niemand in den Kopf geschossen, aber sie waren doch so stark, dass sie sich ärgerte, Roth nicht nach etwas Härterem gefragt zu haben.
Zu Zorbach ins Krankenzimmer zurückzugehen, um ihm von dem zu erzählen, was ihr am Ende von Sukers Behandlung im Gefängnis widerfahren war, hatte sie noch mehr mitgenommen als befürchtet.
»Ich will dir keine falschen Hoffnungen machen, Alex«, hatte sie ihre Schilderung begonnen und ihm dann in allen Einzelheiten von der Vision berichtet, die ihrer Meinung nach einen Zusammenhang zwischen Frank Lahmann, Zarin Suker und Julian aufdeckte.
Es war vorgestern im Behandlungszimmer des Gefängnisses geschehen, nachdem sie die Hände bereits wieder von Sukers Körper gelöst hatte und die optischen Eindrücke sich langsam wieder verflüchtigten. Noch immer aufgewühlt von der Gewaltszene auf der öffentlichen Toilette, hatte sie sich etwas zu ruckartig zur Seite gedreht und das Gleichgewicht verloren.
Zuerst dachte sie, Suker habe sie geschlagen, und sie überlegte kurz, ob sie um Hilfe rufen sollte. Dann wurde ihr bewusst, dass sie zwei Schritte nach hinten gemacht und mit dem Kopf gegen die Metallplatte eines Medikamentenschranks gestoßen sein musste. Sie fasste sich mit beiden Händen an die Schläfen. Wie meist bei Schmerzen am Kopf bewirkte der Gegendruck keine Linderung, sondern eher das Gegenteil: Die Reizimpulse kamen zurück. Alina meinte wieder, mit Sukers Augen zu »sehen«, nur dass diesmal der Film in ihrem Kopf einen Sprung nach vorne gemacht hatte. Anders als in ihrer ersten Vision, befand sie sich nicht mehr in der öffentlichen Toilette, wo Suker in drei Tagen eine ehemalige Patientin entführen würde, während das Radio lief, sondern sie lag in einer nicht näher erkennbaren Umgebung auf dem Fußboden. Sie wusste nicht, ob es im Freien oder in einem abgeschlossenen Raum geschah, als sich plötzlich eine Frau über sie beugte und zu ihr sagte:
»Das war dein gerechter Finderlohn!«
Dann spürte sie, dass die Person, in der sie steckte, etwas erwidern wollte, dazu aber nicht mehr in der Lage war, weil sie in einer roten Pfütze saß, in die die über sie gebeugte Gestalt nun trat. Sie sah das viele Blut, spürte die Schmerzen im Unterleib – und auf einmal verstand sie, weshalb Suker auf dem Boden lag. Weshalb er so fror. Weshalb die Konturen um ihn herum immer blasser wurden, während er kaum einen klaren Gedanken fassen konnte: Suker lag im Sterben.
»Ich will mein Geld zurück«,
schoss es ihm wirr und zusammenhanglos durch den Kopf. Er starb, und mit ihm versank auch sein letzter Gedanke in vollständiger Dunkelheit:
»Aber vielleicht ist das hier ja wirklich die gerechte Strafe für meine Schuld. Vielleicht hätte ich Julian …«
An dieser Stelle war Alina wieder in ihren eigenen Körper, in ihr eigenes Leben zurückgeglitten.
Vorhin im Krankenzimmer hatte Zorbach keine Reaktion gezeigt. Weder auf den Namen seines Sohnes noch auf das Wort »Finderlohn«, das ihrer Meinung nach die – wenn auch geringe – Hoffnung zuließ, Julian könnte womöglich irgendwann doch noch gefunden werden. Wobei Sukers Reflexion über seine mögliche Schuld es unwahrscheinlich erschienen ließ, dass er am Leben war.
Ihr Abschied von Schwanenwerder war ähnlich mysteriös verlaufen wie ihre Begrüßung, wenn auch weitaus weniger brutal. Nachdem sie sich von Zorbach mit einem Kuss auf die Stirn verabschiedet hatte, hatte Roth sie durch einen Hinterausgang hinaus zu einem der Bootshäuser am Ufer des Wannsees geführt. Hier hatte sie ihre persönlichen Gegenstände zurückerhalten und war gemeinsam mit TomTom in das Innere eines
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