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Der Augenjäger / Psychothriller

Der Augenjäger / Psychothriller

Titel: Der Augenjäger / Psychothriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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Zimmer kam, dessen Tür ich endlich erreicht hatte. Ich legte die Hand auf die Klinke, drückte sie nach unten und spürte einen Widerstand.
    Ein weiteres Rätsel. Es gab keinen Schlüssel zu Julians Reich. Nicci hatte immer eine Philosophie der offenen Tür vertreten, verschlossene Räume waren ihrer weltoffenen Lebenseinstellung zuwider gewesen, weshalb sie (sehr zu Julians Leidwesen, der schon früh seine Privatsphäre gegen elterliche Einblicke hatte verteidigen wollen) alle Schlüssel entfernt hatte. Doch jetzt stand ich im Flur der ersten Etage und konnte die Tür nicht öffnen.
    »Julian?«, fragte ich und ließ die Hand von der Klinke gleiten.
    Ich fröstelte, als sie von dem eisigen Lufthauch erfasst wurde, der durchs Schlüsselloch wehte und mich an das offen stehende Fenster erinnerte.
    Ha, ha, du Hirni,
lachte ich mich selbst aus.
Wolltest du ernsthaft eine Vision bitten, dir aufzumachen?
    Die Antwort blieb aus.
    S
elbstverständlich antwortet dir niemand mehr. Es ist ja auch keiner da.
    Mein Entschluss, mich niederzuknien, war weniger einer bewussten Entscheidung als meinem Zustand völliger Kraftlosigkeit zu verdanken. Ich musste mich ausruhen, und das ging hier unten auf dem Teppich besser als im Stehen. Ich blieb nicht lange auf den Knien, was vermutlich daran lag, dass mir die eisige Luft nun direkt ins Gesicht wehte, als sich mein Kopf in Höhe des Schlüssellochs befand. Ich blinzelte und wollte mich abwenden, doch wieder war es Julians Stimme, die mich davon abhielt.
    »Papa, hilf mir«, hörte ich ihn kreischen, nun endlos weit von mir entfernt, so als wäre das Trugbild meines Sohnes dabei, das Haus zu verlassen.
     
    Eine Sekunde später schlug ich die Augen auf und starrte auf einem Bett liegend gegen die Zimmerdecke, während mir ein feines Blutrinnsal aus der Nase lief.

35. Kapitel
    E
ine Sekunde?
    Natürlich konnte es mir nicht gelungen sein, in dieser kurzen Zeit die Tür aufzubrechen, das Licht anzumachen, das Fenster zu schließen und mich auf Julians Bett zu legen, zumal ich dazu über einen umgekippten Kleiderschrank hätte steigen müssen. Aber ich konnte mich weder daran erinnern, bewusstlos geworden zu sein, noch hatte ich eine Vorstellung von der Dauer meines Blackouts.
    Ich hob den Kopf, hielt mir die Nase zu und sah mich um.
    Julian war nie sehr ordentlich gewesen, aber jetzt machte sein Zimmer den Eindruck, als wäre es von einer Horde Drogensüchtiger nach Rauschmitteln durchsucht worden. Sein kleiner Schülerschreibtisch stand kopf, die Schublade war herausgerissen, und ihr Inhalt (ein Comic, zwei DVDs, ein PlayStation-Spiel, Eintrittskarten längst vergangener Kinobesuche, Abziehbilder von Fußballern und ein Taschenmesser) lag verstreut auf dem Boden. Das Wandregal hing noch, wenn auch schief und nur von wenigen Schrauben gehalten. Die Plastikkästen für Julians Spielzeug, die in den unteren Reihen gestanden hatten, entdeckte ich leer neben der Heizung. Alles in allem entsprach der Zustand des Zimmers exakt dem meines Geistes. Verwirrt, ungeordnet, zerstört.
    Ich hob den Kopf, drehte mich um und fand meine Vermutung bestätigt. Julian hatte das Bild unseres Hauses als Hausaufgabe in der Grundschule gemalt und Nicci zuliebe aufgehängt. Nun hing es nicht länger an seinem Platz. Es war abgerissen. Ich konnte die Papierreste unter den Reißzwecken erkennen, die noch in der Wand steckten.
    Ich setzte mich auf und blickte auf den Nachttisch, der neben dem Bett der einzige Gegenstand im Zimmer zu sein schien, der noch an seinem Platz stand. Julians Wecker lag umgekippt auf einem aufgeklappten Notizbuch. Er war um kurz nach halb zehn stehengeblieben.
    Das ergibt doch alles keinen Sinn,
dachte ich und musste gegen eine Welle der Müdigkeit ankämpfen, die mich zurück auf das Bett ziehen wollte.
    Julians Stimme, das Chaos im Raum, das fehlende Bild –
wo ist da der Zusammenhang?
    Wieder empfand ich meine gegenwärtige Lage als vollkommen irreal, was womöglich dadurch verstärkt wurde, dass ich das Geräusch rauschenden Wassers im Ohr hatte, seit meine Nase nicht mehr blutete.
    Roths Stimme war während seiner Visiten nur bruchstückhaft zu mir vorgedrungen, aber ich meinte mich daran zu erinnern, wie er mir einmal zu erklären versuchte, dass meine eingebildeten Schmerzen von einer Sekunde auf die andere verblassen könnten. Den Teil mit den anschließenden schizophrenen Schüben hatte er ausgelassen.
    Ich wog den Wecker in meiner Hand, zog ihn auf und fragte mich, während

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