Der Augenjäger / Psychothriller
Kälte, obwohl ich beides kaum spürte.
»Zentrale? Hier Scholokowsky. Ich bin gerade in Rudow Nähe Dörferblick am Wohnsitz der Zorbachs«, hörte ich ihn über Funk unseren Standort durchgeben.
Das offen stehende Fenster hatte ihn ebenso beunruhigt wie mich. Scholle bat darum, dass sich ein Einsatzwagen bereithielt, den er zur Not abrufen konnte, gleichzeitig entzog er mir den Arm, und ich musste mich am Geländer der zum Eingang führenden Treppe festhalten.
Verdammt,
dachte ich, und jetzt gab es keinen Zweifel mehr an der Ursache meiner Tränen.
Hier habe ich Julian gezeigt, wie man sich die Schuhe zubindet. Hier habe ich seine Fahrradkette aufgezogen, wann immer sie ihm herausgesprungen war.
Wenn mich meine Erinnerungen schon beim Anblick einer vereisten Treppe übermannten, so fragte ich mich, was würde erst geschehen, wenn ich in wenigen Sekunden das Wohnzimmer betrat?
Ich drehte mich um, sah über unseren Vorgarten zu den gegenüberliegenden Häusern, in denen ebenfalls kein Licht brannte und die dennoch heller strahlten als das Haus in meinem Rücken.
Es war, wie Alina mir einmal erklärt hatte: Es sind nicht die Augen, mit denen wir die Welt erkennen. Es sind unsere Gefühle, die uns sehen lassen. Und meine Gefühle spürten in diesem Moment die Anwesenheit des Todes.
»Warte hier«, hörte ich Scholle sagen, dem es mit Hilfe eines Dietrichs und einer Taschenlampe gelungen war, die Haustür zu öffnen. Ich hatte mir fest vorgenommen, unser Heim irgendwann einmal einbruchsicher zu machen; meine Kontakte bei der Polizei zu nutzen und jemanden kommen zu lassen, der die offensichtlichen Schwachstellen an Fenstern und Türen beseitigte. Aber ich Idiot hatte es jahrelang vor mir hergeschoben und darauf vertraut, dass das Böse wie ein Lottogewinn war; etwas, was nur den anderen widerfuhr.
Wie sehr man sich irren kann.
Letztlich war es kein Trost zu wissen, dass keine Alarmanlage dieser Welt die Zerstörung meiner Familie hätte aufhalten können. Frank waren alle Schlösser von mir persönlich geöffnet worden.
»Hast du deine Stromrechnungen gezahlt?«, hörte ich Scholle aus dem Inneren des Hauses rufen.
Bevor ich eine Antwort geben konnte, ging im Flur das Deckenlicht an. Nicci war schon immer sehr umweltbewusst gewesen und hatte, lange bevor es üblich wurde, unser Heim mit Energiesparlampen ausgestattet; matt und in einer unbehaglichen Gelbfärbung dämmerte das Licht zu mir nach draußen.
Ich setzte den Fuß auf die erste schneeverkrustete Treppenstufe und wollte mich am Geländer nach oben ziehen, als mich ein Geräusch in der Bewegung erstarren ließ.
Großer Gott, was ist das?
»Scholle?«
Keine Antwort.
Zuerst dachte ich, ihm wäre schlecht geworden, und fragte mich, was in aller Welt derartige Würgegeräusche provoziert haben mochte. Dann wurde mir klar, dass die hellen, kehligen Laute nicht zu Scholles Brustvolumen passten.
Als das Röcheln anschwoll, und der Ermittler vor Anstrengung brüllte, wusste ich, dass er auf einen Eindringling gestoßen sein musste.
Himmel, was hat das nun wieder zu bedeuten?
Die Kampfgeräusche wurden von einem lauten Poltern beendet, das sich anhörte, als werfe jemand ein Regal um. Es folgte ein heftiges Rumsen, dessen Erschütterung ich auch hier draußen noch spüren konnte, dann brüllte Scholle schmerzerfüllt auf.
Als Nächstes geschah etwas noch viel Verstörenderes: Es wurde ruhig.
Schlagartig.
So abrupt, als hätte das Haus jegliches Leben in seinem Inneren mit einem einzigen Atemzug verschluckt.
33. Kapitel
S cholle?«
Totenstille. Das Haus wirkte wieder so verlassen wie bei unserer Ankunft, als wäre der Kommissar niemals hineingegangen.
Ich sog die kalte Luft ein und begann mit den Zähnen zu klappern.
Was geht hier vor?
Am liebsten hätte ich mich auf die kalten Stufen gesetzt, so erschöpft fühlte ich mich mit einem Mal. Alinas Besuch, Tamaras Augen, die Fahrt zum Dörferblick – nicht zum ersten Mal fragte ich mich, ob diese bizarren Ereignisse heute Nacht Wirklichkeit waren. Womöglich lag ich irgendwo sediert und unter medizinischer Intensivbetreuung in einem Krankenhaus, und mein Gehirn verarbeitete die chemischen Keulen, die mir die Ärzte verabreichten, zu wirren Alpträumen.
Und deswegen kann dir Scholle auch nicht antworten. Denn er ist nie in deiner Nähe gewesen …
Die kalte, klare Luft, die ich atmete, sprach zwar gegen eine Sinnestäuschung, zumindest konnte ich mich nicht erinnern, in meinen Träumen jemals
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