Der Augenjäger / Psychothriller
ich seinem Ticken lauschte, ob das Geräusch meiner verrinnenden Zeit
realer
war als die Stimmen in meinem Kopf.
Oder realer als die Notizen auf dem Block, der auf dem Nachttisch lag?
Das Gefühl der Trauer kam schneller als die Erkenntnis,
was
ich da gerade flüchtig betrachtet hatte.
Julian hatte sein Tagebuch immer unter Verschluss gehalten. Jetzt war er tot, und seine intimsten Geheimnisse lagen offen auf seinem Nachttisch, was sich – wie alles hier im Haus – nicht richtig anfühlte.
Ich nahm den Band mit dem hölzernen Buchrücken in die Hand und ließ die Finger zitternd über den Eintrag gleiten, den mein Sohn am Tag seiner Entführung geschrieben hatte:
Cool, heute ist mein Geburtstag. Ich freu mich so auf Papa. Er will mir etwas ganz Besonderes schenken. Hoffentlich die Uhr. Die hab ich mir sooo gewünscht. Mama hat gestern wieder viel geweint. Weil ich krank war, dieses bescheuerte Fieber, das nicht weggehen will. Aber ich glaub auch, sie ist mal wieder wütend auf Papa. Sie denkt, er kommt zu spät zu meinem Geburtstag wie letztes Jahr. Doch ich weiß es ganz sicher. Wir haben telefoniert, mitten in der Nacht, das war stark. Und wenn Papa mir etwas verspricht, dann hält er es auch. Ich muss Schluss machen. Mama will mit mir Verstecken spielen, bis Papa kommt. Sie ruft unten schon. Ich schreib nachher weiter …
Nachher …
Meine Tränen tropften von der Nasenspitze auf die kindliche Schrift, ohne sie zu verwischen.
Zu wissen, dass es kein
nachher
mehr gab, war unerträglich. Das Einzige, was mich davon abhielt, in einem Ausbruch rasender Verzweiflung das Tagebuch zu zerreißen, war der Respekt vor den letzten Worten meines Sohnes. Und die fehlende Kraft in meinen zitternden Fingern. Ich blätterte weiter durch die Seiten. Bereits beim vorletzten Eintrag, verfasst in Julians unverkennbar ungelenker Handschrift, blieb ich wieder hängen.
Gestern habe ich ihn wieder getroffen. Ich habe ein bisschen Angst vor ihm, aber Papa kennt ihn von der Arbeit, und deshalb mache ich mir nicht solche Sorgen.
Und irgendwie ist er ja auch ganz nett. Er hat mir erklärt, weshalb Papa immer so viel arbeitet. Sie sind wohl gemeinsam hinter einem bösen Menschen her. Irgendwas mit Augen und so, voll abgefahrenes Zeugs. Jedenfalls hat er mir gesagt, ich brauch keine Angst haben, weil er mich beschützen würde und so. Ich müsste ihn nur anrufen, und er versteckt mich dann vor dem Bösen …
Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn ich das nicht getan hätte. Wenn ich nicht weitergeblättert, sondern das Tagebuch zugeklappt, auf den Nachttisch zurückgelegt und abgewartet hätte. Aber vermutlich hätte das nichts an der schrecklichen Abfolge der Dinge geändert.
Hätte, hätte, Herrentoilette
schoss mir die hohle Phrase meiner Chefredakteurin durch den Kopf, die sie gern benutzt hatte, wenn jemand ihr erklären wollte, wie gut die Story hätte werden können, wenn da nicht diese oder jene Panne passiert wäre.
Und
hätte
ich das Schicksal verändern können, wenn mir beim Blättern nicht die lose Seite mit dem kryptischen Eintrag entgegengefallen wäre?
SAFRAN WECKT HIRN
Drei Worte, in Druckbuchstaben quer über die ansonsten fast leere Doppelseite geschrieben.
Drei Worte, auf die ich mir ebenso wenig einen Reim machen konnte wie auf die Ziffernfolge, die mein Sohn daruntergekritzelt hatte. Und wieso hatte er sie doppelt unterstrichen?
In diesem Moment dachte ich darüber nicht nach, ich war nur froh, dass ich Julians Handy in seiner Nachttischschublade fand. Ich wunderte mich noch nicht einmal darüber, dass es noch zu einem Viertel aufgeladen war. Hauptsache, ich konnte die Telefonnummer wählen, die mein Sohn auf dem Papier in meinen Händen hinterlassen hatte.
SAFRAN WECKT HIRN
Gefolgt von einer Nummer, versehen mit einem weiteren Kommentar:
NUR IM NOTFALL ANRUFEN !!!
Es läutete zweimal schnell hintereinander, dann knackte es in der Leitung. Ich erkannte meinen Gesprächspartner am Atmen. Bevor ich sein erstes Wort hörte, wusste ich bereits, mit wem ich telefonierte.
»Frank?«
»Hallo, Zorbach«, sagte der Augensammler. »Was für eine Überraschung. Ich dachte, du bist tot.«
36. Kapitel
W o ist mein Sohn?«, fragte ich und hasste mich für die Hoffnung, die ich aus meiner eigenen Stimme heraushörte.
Ich krallte die Hand so fest um das Handy, dass es knackte.
»Was hast du mit ihm gemacht?«
»Das wirst du nie erfahren. So hatten wir es abgemacht, erinnerst du dich?«
»Du weißt,
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