Der Augenjäger / Psychothriller
verwirren.
»Frank?«, fragte ich, als er längere Zeit nichts mehr gesagt hatte und ich schon befürchtete, er habe wieder aufgelegt.
»Bist du da?«, antwortete er. »Ich kann es immer noch nicht rauschen hören.«
Aber ich, du kranker Psychopath.
Ich hatte mich zum Türrahmen gekämpft und starrte schweißgebadet den Flur hinunter. Zwischen mir und der letzten Tür am Ende des Ganges lag eine Strecke, die für mich einem Marathon gleichkam.
»Ich schaffe das nicht«, keuchte ich in das Handy, den Blick zu Boden gerichtet.
»Oh doch, Zorbach. Du hast schon ganz andere Dinge gepackt. Glaub mir.« Franks Lachen klang wie ein Schluckauf. »Oder willst du dir nicht ansehen, was da in deiner Badewanne liegt?«
37. Kapitel
Alina Gregoriev
E r hatte das Licht ausgemacht. Bewusst. Der perverse Dreckskerl hatte gewusst, wie wichtig es ihr war, zwischen Hell und Dunkel unterscheiden zu können, die einzige Differenzierung, die ihren blinden Augen noch möglich war. Während Suker vorgetäuscht hatte, sie vergewaltigen zu wollen, hatte eine Lampe über ihrem Kopf gebrannt. Der Strahl war nicht nur licht-, sondern auch wärmeintensiv gewesen, weshalb sie seine Abwesenheit jetzt doppelt bedauerte.
Licht ist Leben. Dunkelheit der Tod.
Sie lag nackt in einer alles beherrschenden Dunkelheit und spürte, wie ihr die Kälte die Beine hochkroch. Ihre Füße waren wie taub. Wenigstens steckten ihr die Metallklammern nicht mehr zwischen den Lidern. Suker hatte sie entfernt, nachdem er ihre Augen gründlich untersucht und zum Abschluss mit einer brennenden Lösung betropft hatte.
Niemals zuvor hatte sie sich so einsam gefühlt wie in diesem Moment, auch wenn sie wusste, dass sie nicht die einzige Person im Raum war.
»Wer bist du?«, hörte sie die Stimme der jungen Frau, die sie geweckt hatte, kurz bevor Suker sie auf unbestimmte Zeit mit dem Kommentar allein gelassen hatte:
»Ich gebe den Damen jetzt die Gelegenheit, sich auszutauschen, bevor die Operation beginnt.«
Die Frau befand sich etwa einen Meter rechts neben ihr. Ihr Atem rasselte, und sie klang, als würde sie einen Hustenreiz unterdrücken. Eine Zeitlang überlegte Alina, ob sie antworten sollte. Ihr gesamter Körper war auf Flucht, ihre Sinne auf Gefahrenabwehr programmiert. Solange sie nicht wusste, wie sie sich aus ihrer Gefangenschaft befreien konnte, stellten unbekannte Menschen eine potenzielle Bedrohung dar, selbst wenn sie klangen, als litten sie unter einer Bronchitis und wären kaum älter als achtzehn Jahre. Andererseits, was hatte sie durch eine Unterhaltung schon zu verlieren? Schlimmstenfalls verstieß sie damit gegen irgendwelche Regeln des Wahnsinnigen, der sie garantiert mit einer Nachtbildkamera filmte, um sich an ihrer verwundbaren Blöße zu weiden.
»Mein Name ist Alina Gregoriev«, begann sie sachlich. Wie ein Läufer auf seinen Atem achtet, so konzentrierte Alina sich auf jedes einzelne Wort. Am liebsten hätte sie ebenso laut geschluchzt wie die Frau neben ihr. Aber wenn das Schwein ihr zuhörte, wollte sie ihm nicht den leisesten Hauch ihrer unerträglichen Angst zeigen.
»Und du, wie heißt du?«
»Ich, ich …« Die Frau machte eine Pause, als könne sie sich nicht an ihren eigenen Namen erinnern. Dann sagte sie: »Nicola« und begann zu weinen.
Nicola. Nicola? Nicola,
wiederholte Alina den Namen im Geiste, jeweils mit unterschiedlichen Betonungen, mal fragend, mal zweifelnd. Sie kannte niemanden dieses Namens, war sich aber sicher, ihn erst vor kurzem irgendwo gehört zu haben.
»Tut mir leid, es ist nur so, ich …« Nicola schien sich wieder zu fangen.
»Ich hab seit einem halben Jahr mit niemandem mehr gesprochen.«
»So lange hält er dich schon fest?«
»Ja.«
Alina drehte den Kopf zu der Stimme.
»Wozu?«
Sie traute sich nicht, die Frage zu formulieren, die sie eigentlich im Kopf hatte
: Weshalb behält er dich so lange hier? Seine anderen Opfer hat er binnen weniger Tage entführt, gequält und wieder freigelassen.
»Ich habe keine Ahnung. Er liebt meine Augen.«
Das verstehe ich nicht,
dachte Alina.
Aber wahrscheinlich gibt es hier auch nichts, was ich mit meinem gesunden Geist verstehen könnte.
»Er kommt ständig, um sie anzusehen. Sagt, er hat sie sich für etwas Besonderes aufgehoben.«
Krank. Einfach nur krank.
Früher hatte sie sich gerne über die Psychothriller lustig gemacht, die John so mochte und in denen es meist eine rationale Erklärung für das scheinbar unbegreiflich Böse gab. Aus
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