Der Augenjäger / Psychothriller
so reale Empfindungen gehabt zu haben – allerdings hatte die Rockband schon eine geraume Zeit nicht mehr in meinem Kopf geprobt, was nur zwei Möglichkeiten zuließ: Entweder ich träumte einen schmerzmittelbetäubten Schlaf, oder die Aufregung half mir mit neuen spektakulären Erinnerungen, mein Schmerzgedächtnis zu überschreiben.
»Scholle, was ist los?«
Ich schleppte mich langsam, Schritt für Schritt, die kurze Treppe nach oben, ohne eine Antwort zu erhalten, wobei mit jeder Stufe sowohl meine Erschöpfung als auch das Gefühl einer unsichtbaren Bedrohung wuchsen.
Drinnen war es erstaunlich warm, zumindest konnte ich meinen Atem nicht mehr sehen. Dafür erzeugten der kleine Regenmantel an der Garderobe und die gerahmten Familienfotos an den Wänden eine andere Form der Kälte. Auf einem der Porträts lachten Julian und Nicci gemeinsam in die Kamera, was ihren Anblick noch unerträglicher machte.
Wo war die Rockband, wenn man sie brauchte? Warum hämmerte sie nicht so laut in meinem Kopf herum, dass ich zu keiner Empfindung mehr fähig war? Stattdessen war ich, von dem dumpfen Ziehen hinter den Augen abgesehen, zum ersten Mal seit Wochen fast völlig schmerzfrei und hatte meine Sprache wiedergefunden.
»Scholle, verdammt, wo bist du?«
Meine rechte Körperhälfte fühlte sich immer noch an wie aus Gummi, weshalb ich mich nur schrittweise vorantasten konnte, vorbei an einer umgestürzten Kommode, deren Inhalt über den Fußboden verteilt lag. Ich stieg über einen Berg Tischdecken und trat auf die Scherben eines zerstörten Setzkastens, stumme Zeugen eines Kampfes, dessen Beteiligte wie vom Erdboden verschwunden schienen. Das Chaos erstreckte sich von der Diele bis zum Treppenhaus. Die Kellertür stand offen. Ich spürte, wie sich mein Magen zusammenzog, und ignorierte den Köder. Schon einmal war ich in die Dunkelheit eines Kellers hinabgestiegen und hatte nichts als den Tod vorgefunden. Ein zweites Mal würde mir dieser Fehler nicht unterlaufen.
»Scholle?«, rief ich weiter vergeblich und hangelte mich mit pochendem Herzen zum Fuß der Holztreppe, die in den ersten Stock führte und an der immer noch »die Leine« hing, ein von Nicci gebastelter Adventskalender. Von den vierundzwanzig in Weihnachtspapier eingewickelten und unterschiedlich großen Geschenken, die sie für Julian an den Streben des Geländers angeleint hatte, waren noch nicht viele ausgepackt.
Ich griff nach der größten Überraschung, die für Heiligabend vorgesehen gewesen war, und versuchte, den Inhalt des Päckchens zu ertasten.
Das ist keine gute Idee, Zorro,
hörte ich in Gedanken die Stimme meiner toten Frau.
Du solltest nicht hier sein. Verschwinde besser. So wie Scholle …
Ich schüttelte den Kopf, um mit dem so provozierten Schmerz ihre Stimme zu vertreiben, und nachdem es mir gelungen war, wünschte ich mir die typischen Geräusche zurück, die das Haus früher von sich gegeben hatte, wenn ich wieder einmal spät in der Nacht von einem Einsatz heimgekommen war und barfuß die Stufen nach oben schleichen wollte, um niemanden aufzuwecken. Es war mir zur Routine geworden, vor dem Aufstieg noch eine Zeitlang mit angehaltenem Atem in die Stille zu lauschen. Dann freute ich mich, wenn draußen der Wind heulte und ich mich und meine Lieben im Warmen wusste, geschützt von doppelverglasten Wärmefenstern, eingemummelt in dicke Daunendecken. Ich liebte die Sekunden, in denen das Summen des Kühlschranks, das leise Knacken unserer alten Heizungsrohre und das undefinierbare Grundrauschen, das jedem bewohnten Haus innewohnt, zu einer melancholischen Melodie verschmolzen, die mich daran erinnerte, viel zu viel Zeit mit den falschen Dingen im Leben zu verbringen. Leider hatte ich es nie geschafft, auf sie zu hören; selbst später nicht, als Nicci und ich uns trennten, weil sie mit meiner Einstellung, der Arbeit im Zweifel den Vorrang zu geben, nicht mehr klarkam.
Und heute?
Kein Knacken, kein Rauschen. Nichts. Heute war die Melodie des Hauses verstummt, nur die Geister meiner Erinnerungen hallten als Echo in meinem Kopf umher.
Die Anspannung, die ich in diesem Augenblick spürte, war elektrisierend. Meine Haut brannte, als würde sie mit unzähligen mikroskopisch kleinen Nadeln bearbeitet. Die Stiche ließen mich an Alina und ihre Tätowierung am Halsansatz denken. Würde ich sie jemals wiedersehen? Würde ich ihr einmal wieder so nahe sein, dass ich die Hand ausstrecken und die eingravierten Buchstaben mit der Fingerspitze
Weitere Kostenlose Bücher