Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Augenjäger / Psychothriller

Der Augenjäger / Psychothriller

Titel: Der Augenjäger / Psychothriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
Vom Netzwerk:
streicheln könnte?
Fate – Luck,
die leicht erhabenen Buchstaben auf ihrer Haut, die ich nur ein einziges Mal hatte küssen dürfen. Die Erinnerung an jene Nacht verdrängte meine Wehmut und ersetzte sie durch Scham. Auf einmal fühlte ich mich schuldig, mit Alina geschlafen zu haben, nur wenige Stunden bevor meine Frau ermordet und Julian verschleppt worden war. Und ich schämte mich, auch nur für Sekunden an jemand anderes als an meinen Sohn gedacht zu haben.
    Bevor ich mich in Trauer, Furcht und Selbstmitleid verlor, rief ich mir Franks Gesicht in Erinnerung. Hass loderte in mir auf, und das ließ mich die Zähne zusammenbeißen. Ich versuchte, mich am Treppengeländer nach oben zu ziehen, und nahm mir vor, mich mit jeder Stufe mehr auf das Wesentliche zu konzentrieren.
    Auf die wesentlichen Fragen!
    Erste Stufe:
Wieso wurde Alina entführt?
    Zweite Stufe:
Hat sie etwas mit Sukers Opfern gemein?
    Dritte Stufe:
Wenn ja, was verbindet sie mit Tamara?
    Vierte Stufe:
Weshalb verweigert Tamara die Aussage?
    Fünfte Stufe:
Hat es etwas mit mir zu tun?
    Sechste Stufe:
Oder mit unserem Haus, dessen Bild sie an ihre Zimmerwände krakelt?
    Siebte Stufe:
Oder mit Julian, der schon Jahre zuvor so ein Bild gemalt hatte, das immer noch über seinem Bett hängt?
    Auf der achten Stufe hielt ich schweißgebadet und mit klopfendem Herzen inne, bevor ich mir die nächste und vielleicht im Moment drängendste Frage stellte:
    Was zum Teufel haben die gequälten Laute zu bedeuten, die aus Julians Zimmer dringen?

34. Kapitel
    N atürlich war es nicht real. So wie manche Patienten mit Hirnschädigungen plötzlich den Geruch von Leberwurst oder verbranntem Plastik in der Nase haben, hörte ich ein weinendes Kind, das es in Wahrheit nicht gab und nur auf einen Kurzschluss in meinen Synapsen zurückzuführen war.
    Doch zu diesem Zeitpunkt war mir diese rationale Erkenntnis nicht möglich. Obwohl mein Gehirn schon lange nicht mehr in Reimen dachte und die wenigen Worte, die ich bislang gesagt hatte, mittlerweile ohne verfälschende Zischlaute aus meinem Mund kamen, war ich zu einer nüchternen Selbsteinschätzung in etwa so fähig wie ein Schlafwandler zum Smalltalk. In jenen Stunden agierte ich ausschließlich instinktgetrieben. Und so wie eine Mutter ihr hungriges Baby nicht lange schreien lassen kann, konnte ich mich nicht den Geräuschen entziehen, die durch das Schlüsselloch drangen.
    »Julian?«, fragte ich zögernd, weil ich glaubte, ihn an der Abfolge von Schluchzen, Luftanhalten und stoßartigem Weinen wiederzuerkennen.
    Kaum hatte ich den Namen meines Sohnes ausgesprochen, wurde es still.
    Ich weiß noch genau, wie dankbar ich in dieser Sekunde war, dass die Halluzination nur so kurz währte und so leicht vertrieben werden konnte, als ich seine Stimme wieder hörte.
    »Papa?«
    Anders als auf Schwanenwerder war mein imaginärer Sohn diesmal weiter entfernt und wirkte daher auf erschreckende Art realer. War er zuvor direkt in meinem Kopf umhergespukt, hörte ich ihn jetzt tatsächlich so, als trenne uns nur eine Wand voneinander. Er klang schwach, kaum verständlich, als hielte ihm jemand eine Hand vor den Mund.
    Julians Zimmer lag dem Treppenende, das ich mittlerweile erreicht hatte, direkt gegenüber.
    »Wo bist du?«, fragte ich laut, für einen kurzen Moment sogar froh darüber, dass Scholle verschwunden war und nicht mit ansah, wie ich mit einem Geist redete. Die Antwort meines Sohnes klang verzweifelt.
    »Hilf mir!«, rief er erstickt. Plötzlich war ich mir nicht länger sicher, wo mein Gehirn diesen Laut räumlich verorten wollte. Mir kam es so vor, als hörte ich Julian nicht länger
vor,
sondern
über
mir.
    Ich überlegte, ob ich es wagen könnte, den Pfosten der Treppe loszulassen, um mich die letzten Meter zur Zimmertür frei über den Flur zu bewegen, ohne die Möglichkeit, mich irgendwo festzuhalten. Ich war mir sicher, sofort auf den Teppich hinzuschlagen, aber Julians tränenersticktes Flehen ließ mir keine Wahl.
    »Tu, was er sagt«, rief er. »Oder er bringt uns um!«
    Uns?
    Während ich wie in Zeitlupe immer näher an das Zimmer heranrückte, entfernte sich Julians Stimme mit jedem Wort.
    Wie kann das sein?
    Der Raum hinter der Tür war klein und quadratisch, ohne weitere Zugänge oder Rückzugsmöglichkeiten. Wie konnte Julians Stimme langsam aus dem Raum verschwinden?
    Weil es ihn nicht gibt, du Idiot,
gab ich mir selbst zur Antwort.
Dein Sohn ist schon lange tot.
    Oder weil seine Stimme gar nicht aus dem

Weitere Kostenlose Bücher