Der Augenjäger / Psychothriller
ist.
»Ich will ihn sprechen«, sage ich mit erstaunlich fester Stimme, während mir kalter Schweiß zwischen den Schulterblättern herabrinnt. Mein Atem geht schwer. »Meinen Sohn. Gib ihn mir.«
»Das kränkt mich, Alex. Hast du denn gar kein Vertrauen mehr in mich? So oft, wie ich dir meine Fairness bewiesen habe?«
Es brummt in der Leitung, und ein Störgeräusch überlagert seine letzten Worte. Es klingt, als hätte er einen Rasierapparat eingeschaltet. Vermutlich aber hat Frank nur seinen Standpunkt gewechselt und ist in die Nähe eines technischen Geräts gekommen. Ich nutze die Pause, um mich mit einem Blick auf mein Handy zu vergewissern, dass ich die Aufnahmefunktion eingeschaltet habe und unser Gespräch aufgezeichnet wird.
»Wer hat dir denn die entscheidenden Hinweise gegeben, die zur Rettung der Zwillinge führten?«, fragt er weiter. »Ich hätte die Kinder früher aus dem Versteck führen können, bevor du sie findest, stattdessen habe ich mich an meine Spielregeln gehalten.«
»Ich. Will. Julian. Sprechen«, presse ich hervor. Mit jedem Atemzug, den ich tätige, scheint der Druck auf meine Lungen größer zu werden. Ich weiß, meine wachsende Panik lässt mir kaum noch Zeit. Bald werde ich anfangen zu hyperventilieren.
Eine Zeitlang geschieht gar nichts, nur das Störgeräusch am anderen Ende der Leitung wird lauter. Dann knackt es, und Frank seufzt.
»Also gut, weil du es bist, Alex. Aber mach’s kurz. Noch vierzig Sekunden.«
Das Brummen hört auf, und für einen kurzen Moment befürchte ich schon, die Verbindung ist abgerissen, doch dann höre ich ein einziges, geflüstertes Wort, das mir die Tränen in die Augen treibt.
»Papa?«
»Oh Gott, Julian.«
Die Stimme meines Sohnes, die viel kindlicher klingt, als ich sie in Erinnerung habe, ist zugleich Salz und Balsam auf den seelischen Wunden, die Frank aufgerissen hat.
Ich schwanke und knie mich wieder hin, bevor ich das Gleichgewicht verliere. In den letzten Tagen habe ich keine Stunde geschlafen, wurde gefoltert und wäre bei der Rettung zweier Kinder beinahe ertrunken. Ich habe meine ermordete Frau in den Armen gehalten und bin diesem Psychopathen überallhin gefolgt – aber ich bin nicht am Ende. Ich bin am Anfang. Nach all den Strapazen, nach Ablauf aller Ultimaten, die mir gestellt wurden, habe ich es schließlich doch geschafft. Ich stehe kurz davor, Julians elfjähriges Leben zu retten. Den Tausch, den Frank mir anbietet, empfinde ich in dieser Sekunde als erlösendes Geschenk.
»Wann kommst du?«, fragt Julian. Er klingt müde und ängstlich, so wie früher, wenn er an unsere Schlafzimmertür klopfte, weil ihn ein Gewitter aus dem Schlaf gerissen hatte.
»Ich weiß es nicht, mein Schatz«, flüstere ich und setze die Waffe an.
»Noch zehn Sekunden«, höre ich den Psychopathen im Hintergrund rufen. Julian beginnt zu weinen.
»Ich liebe dich, Papa.«
»Ich dich auch.«
Für immer.
Ich atme tief durch und halte die Luft an. Dabei presse ich den Lauf der Pistole auf mein geschlossenes linkes Auge. Als der Atemreflex wieder einsetzen will und meine Lungen zu zerbersten drohen, drücke ich ab.
Es gibt eine grelle Explosion, gefolgt von einem Knall, der auf seinem Höhepunkt, kurz nachdem sich das Geschoss durch meinen Schädel gebohrt hat, plötzlich abreißt – und dann ist alles verschwunden: der Frachtraum, die Pistole in meiner Hand, das Licht und die Explosion. Und dann …
Schwarz.
Die Welt, in der ich die letzten Jahre meines Lebens vergeudet und alles verloren habe, existiert nicht mehr.
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Sieben Wochen später
5. Kapitel
Alina Gregoriev
S oll ich mich ausziehen?«
Zarin Suker hatte eine Stimme, die wie dafür gemacht schien, schlechte Nachrichten zu überbringen. Weich, warm, einfühlsam. Wollte man den Menschen Glauben schenken, die ihn näher kannten, war es die Stimme eines Meisters im Operationssaal, eines mehrfach ausgezeichneten Mitglieds der akademischen Gesellschaft.
Die Stimme eines Vergewaltigers und Mörders.
»Laut unseren Akten zählt er zu den versiertesten Augenchirurgen der Welt«,
hatte Hauptkommissar Philipp Stoya sie bei ihrem ersten Gespräch über Suker in seinem Büro gebrieft.
»Spezialisiert auf die schwierigsten Operationen am menschlichen Sehorgan. Jüngster und bester Abiturient seines Jahrgangs. Abschlüsse an vier Universitäten. Er hat Patente auf zahlreiche medizinische Geräte – unter anderem auf ein Skalpell, das seinen Namen trägt. Das Suker-Messer. Er
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