Der Augenjäger / Psychothriller
bestreiten.
Ging sie in ihren Lieblingsklamotten in die Öffentlichkeit (Lederjeans mit aufgerissenen Knien, knallgrüne Springerstiefel und Abercrombie-Sweatshirt), war sie noch nie besonders zuvorkommend behandelt worden. Mit Businesskostüm, Manolo Blahniks an den Füßen und einem Push-up- BH unter der eng anliegenden Bluse dauerte es keine dreißig Sekunden, bis ihr ein Kaffee angeboten wurde, ganz gleich, ob sie eine Boutique oder ihre Bank betrat. Die meisten wurden zunächst von ihrer ungewöhnlichen Gesamterscheinung abgelenkt, bei der vor allem ihre Haare hervorstachen. Diese waren, je nach Alinas aktueller Gemütslage, mal kurz, mal lang, mal streng gebunden, mal dauergewellt, im strengen Pony oder zu Rasta-Zöpfchen frisiert, und nicht selten wechselte die Farbe sogar mehrfach am Tag. Möglich wurde diese Verwandlungsfähigkeit durch einen schier unerschöpflichen Vorrat an Echthaarperücken, in den sie einen guten Teil ihres Gehalts als Physiotherapeutin investierte.
Heute hatte sie sich aus gegebenem Anlass für eine schlichte Kombination aus einer weißen Jeans, flachen Winterstiefeln und einem grauen Rollkragenpulli entschieden. Die Haare trug sie lang, schwarz und offen. Es war Wochenende, sie war in den letzten Monaten durch die Hölle gegangen, und eigentlich stand ihr der Sinn nach etwas Wilderem. Nach ihrem Camouflagekleid im Tarnfarbenlook zum Beispiel, in dem sie einer amazonenhaften Kriegerin ähnelte, vor allen Dingen, wenn sie auf künstliche Frisuren verzichtete und sich mit ihrem kahlrasierten Schädel der Außenwelt präsentierte. Abgesehen davon, dass das bei den sibirischen Februar-Temperaturen da draußen keine gesundheitsfördernde Idee gewesen wäre, hätte Suker zu diesem Look wohl auch kein Vertrauen gefasst; daher war sie heute, sehr zu Stoyas Erleichterung, in einem seriösen Outfit vor den Toren der Justizvollzugsanstalt erschienen.
»Ich wollte Ihnen eben nicht zu nahe treten«, sagte der Augenarzt, dem ihre Anspannung aufgefallen sein musste. »Aber Ihre Sonnenbrille ist verrutscht, und da bemerkte ich die charakteristische Trübung, die mir verrät, dass Sie nicht von Geburt an blind sind, habe ich recht?«
Alina nickte und ärgerte sich im gleichen Moment über ihre Reaktion. Der Unfall lag jetzt dreiundzwanzig Jahre zurück, und doch war keine ihrer Erinnerungen deutlicher als die an den Moment der Explosion, die ihre Augen zerstörte.
»Wollen Sie jetzt behandelt werden oder nicht?«, fragte sie den Häftling etwas schroffer als beabsichtigt.
»Warum so unfreundlich, mein Kind?« Suker schüttelte lächelnd den Kopf.
Unfreundlich? Es wäre noch nicht einmal unfreundlich, dir eine Kugel in den Kopf zu jagen für das, was du den Frauen angetan hast. Und wenn du mich noch einmal »mein Kind« nennst, spuck ich dir ins Gesicht.
»Na schön.« Sie nahm die Flasche mit dem Massageöl, das sie mitgebracht hatte, vom Tisch und verstaute sie wieder in ihrem Rucksack.
»Was haben Sie vor?«
»Wonach sieht’s denn aus? Ich gehe.«
Sie zog den Reißverschluss zu und schulterte die Tasche. »Mir wurde gesagt, Sie hätten sich bei Sportübungen in Ihrer Zelle einen Nerv eingeklemmt und benötigten professionelle Hilfe, doch so wie es aussieht, verschwende ich hier nur meine Zeit.«
»Der Idiot hat sich beim Bauchmuskeltraining irgendwas im Lendenwirbelbereich gezerrt. Bauen Sie ein Vertrauensverhältnis zu ihm auf, überreden Sie ihn zu einer Behandlung. Berühren Sie ihn, und vielleicht …«
Stoya hatte bei der Vorbesprechung an dieser Stelle einfach aufgehört zu reden, vermutlich, weil er merkte, wie verrückt es klingen würde, wenn er den Satz vollendet hätte.
»Was soll die Schauspielerei, Alina?«, fragte Suker unvermittelt.
Sie erstarrte, als sie ihren Namen aus seinem Mund hörte. Sie hatte sich ihm als Sabine Schneider vorgestellt.
Verdammt. Ich habe es doch gewusst.
Es war genau das eingetreten, was sie befürchtet hatte.
»Er wird mich erkennen. Mein Bild war in fast allen Zeitungen, mein Name in jeder Zeitschrift.«
Stoya hatte ihren Protest mit wenigen Worten vom Tisch gewischt.
»Suker sitzt seit fast zwei Monaten in Einzelhaft. Er hat keinen Fernseher, kein Internet, keinen Zugang zu irgendwelchen Medien. Da er laut den psychologischen Gutachten eine Gefahr für andere Mithäftlinge darstellt, hat er keinerlei soziale Kontakte. Seinen Hofgang absolviert er allein, und es gibt noch nicht einmal einen unmittelbaren Zellennachbarn, mit dem er
Weitere Kostenlose Bücher