Der Augensammler
»Lea? Tobias?«
Trotz der angeforderten Verstärkung, die von der Uferseite her dazugestoßen war, konnten sie in der verbleibenden Zeit unmöglich jeden einzelnen Container aufbrechen und durchsuchen. Zumal die Hunde nirgendwo anschlugen: nicht im Führerhäuschen, nicht im nach Schmieröl und Diesel stinkenden ersten Unterdeck; nur einmal kurz vor einer Innenkajüte, in der sie aber nur den Kapitän zu Tode erschreckten, der von dem Geräusch der aufbrechenden Tür geweckt worden war, um im nächsten Moment von Männern in schwarzen Tarnanzügen und Skimasken aus seiner Koje gezerrt zu werden.
Eine Minute später stürmten drei Beamte die innen liegenden Lagerflächen, während die Einsatzkräfte oben an Deck mit der Sisyphusarbeit begannen und die Plomben von den Containerschlössern sprengten. »Tobias? Lea?«
Die Rufe hallten vom Deck über das Wasser des Teltowkanals, an dessen Ufer sich Schaulustige eingefunden hatten.
Zwei Jogger, ein Spaziergänger und eine Hundebesitzerin, die alle wissen wollten, was das immer größer werdende Aufgebot an Mannschaftswagen, Rettungsfahrzeugen und Polizeiautos in den frühen Morgenstunden hier zu bedeuten hatte.
Die Rufe der Männer im Bauch des Schiffes verhallten unerwidert zwischen den Stahlplatten, Heizungsrohren und in den Kabelschächten des Unterdecks. Die Polizisten fühlten sich immer hilfloser, vergaßen teilweise den eigenen Schutz, wenn sie eine Tür öffneten, um eine Ecke stürmten oder in einen Gang leuchteten, ohne ihn vorher gesichert zu haben. Noch sieben Minuten.
Es ist einfach nicht zu schaffen, dachte Stoya, der mittlerweile auch auf dem Schiff eingetroffen war. Wir haben uns geirrt, dachte er gerade, als die Hunde im Maschinenraum anschlugen.
12. Kapitel
(Noch 5 Minuten bis zum Ablauf des Ultimatums)
Alexander Zorbach (Ich)
Zu spät.« Ich starrte auf die unheilvoll flackernden Lichter der Polizeiwagen und wusste, dass der Einsatz chancenlos war.
»Was siehst du?«, fragte mich Alina, die mit Frank und TomTom ebenfalls ausgestiegen war.
Wir hatten den Toyota in sicherem Abstand zu den Absperrungen geparkt, etwa zweihundert Meter bevor die Straße zu einer Brücke wurde, die den Teltowkanal kreuzte.
Eine Brücke!
Schon wieder kämpfte ich gegen die Uhr, und wieder hatte mein Schicksal mich an eine Brücke geführt. Schicksal oder Zufall?, dachte ich, und Alinas Tätowierung tauchte vor meinem geistigen Auge auf. »Es sind zu wenig Männer, sie können nicht alle Schiffe durchsuchen«, setzte ich gerade an, ihre Frage zu beantworten, als mein Handy klingelte. Ich erwartete Stoya, doch dann sah ich auf das Display, und meine Verzweiflung wuchs.
»Bist du schon unterwegs?«
Keine Begrüßungsfloskel, keine Namen. Nur eine kurze, anklagende Frage.
Nicci schien die Antwort bereits zu kennen, denn ihre Stimme troff von Zweifeln.
Nein, verdammt. Ich schaffe es nicht.
Ich begann zu stammeln, wusste nicht, was ich sagen sollte. Die Wahrheit nämlich, dass ich gerade Zeuge wurde, wie ein Polizeiaufgebot vergeblich versuchte, zwei Kinder vor dem Erstickungstod zu retten, war so unerträglich, dass ich sie nicht als Ausrede missbrauchen wollte. »Verdammt, Alex. Du hast es ihm versprochen. Er ist schon seit einer Stunde wach und furchtbar aufgeregt, weil du ihm gesagt hast, dass du um sieben Uhr mit uns frühstücken wirst. Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie traurig Julian sein wird, wenn er gleich runterkommt, und sein Vater hat ihn an seinem eigenen Geburtstag vergessen?« »Ich habe ihn nicht vergessen.«
»Aber du bist nicht hier. Es gibt kein gemeinsames Frühstück, und dein Geschenk hängt auch nicht an der Leine.« Ich stöhnte und presste mir verzweifelt die Hand gegen die Stirn. Frank sah mich fragend an.
Das Geschenk! Wieso nur hatte ich Julian eine Uhr versprochen. So ein grausames, tödliches Ding, das am Ende doch zu nichts anderes nutze war, als uns von Sekunde zu Sekunde dem Tod näher zu bringen.
Ich sah auf meine eigene, altmodische Uhr - ein Erbstück meines Vaters - und hoffte, dass das teure Schweizer Stück erstmals fehlerhaft laufen würde. Dass die Zeiger aus irgendeinem Grund zu schnell nach vorne gesprungen waren. Ich blinzelte, und plötzlich fühlte ich, wie mein Gehirn etwas in meinem näheren Umfeld registrierte; etwas, was ich in diesem Augenblick nicht sofort deuten konnte. Ich schloss die Augen und versuchte mich zu erinnern, woran ich gerade gedacht hatte, bevor diese tiefe Angst in all meine Poren
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