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Der Augensammler

Der Augensammler

Titel: Der Augensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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dass irgendwann Herr Kerner kommen und ihn befreien würde. Nur war das hier heute keine Turnhalle, und sein Vater war auch kein Sportlehrer, der ihm die Matte vom Kopf riss, damit er wieder atmen konnte. Sein Vater war .
    ... ein Nichts. Papa ist noch nie für mich da gewesen, wieso ausgerechnet heute? Eher würde Mami vorbeikommen. Ja, Mami würde ihn sicher suchen. So wie damals, als sie beim Rodeln die Zeit vergessen hatten und sie ihnen voller Sorge den Waldweg entgegengelaufen war. Tobias, hatte sie immer gerufen. Lea, Tobias ... Und er hatte sich gleichzeitig gefreut und geschämt, denn natürlich war er traurig, dass Mami seinetwegen geweint hatte. Aber dadurch wusste er wenigstens, wie sehr sie ihn vermisste.
    Tobias, hallo? Tobias, wo bist du? Ihm war, als habe er vorhin, bevor das Wasser (das auf gar keinen Fall caldo, sondern molto freddo ist) ihn endgültig geweckt hatte, jemanden nach ihm rufen hören. War Mami vielleicht schon unterwegs?
    Ja, Mami. Nicht Papa. Scheiß auf Papa, auf seine Tischgesetze und auf sein schlechtes Italienisch, auf seine Fremdwörter, die man nicht versteht, und vor allem scheiß auf seine Arbeit, die ihn immer davon abhält, mit mir im Garten zu spielen. Papa wird nicht kommen. Aber Mami... Tobias' Lippen saugten das letzte bisschen Luft aus dem Spalt zwischen der Wasseroberfläche und der Metalldecke. Dann stieg der Pegel einen weiteren Millimeter, und sein Kopf war vollständig vom Wasser umschlossen. Er wusste, er ertrank. Aber dennoch war er voller Hoffnung, dass seine Mami ihn bald finden würde.

     

9. Kapitel
    (Die letzte Minute des Ultimatums)
Philipp Stoya (Leiter der Mordkommission) (Auf dem Containerschiff)
    Was ist dahinter?« Stoya hieb mit der Faust gegen die Stahltür.
    »Das dürfen Sie nicht aufmachen«, antwortete der Kapitän.
    »Weshalb?«
    »Das ist ein Schott. Wenn Sie das öffnen, gehen hier die Lichter aus.«
    Stoya griff nach dem Drehventil an der Tür. Obwohl er mit aller Kraft daran rüttelte, konnte er es keinen Millimeter weit bewegen.
    »Hey, was soll das werden, hören Sie nicht?« Der Kapitän protestierte lauthals, als Stoya sich beim Einsatzleiter nach C-4-Sprengstoff erkundigte. »Ich verliere meinen Job, wenn Sie das öffnen.« »Wieso das?«
    »Mann, deswegen liegen wir doch hier fest. Der alte Kahn ist leck.«
    Der Kapitän zeigte auf die Stahltür. »Dahinter steht Ihnen das Wasser bis zum Hals. Glauben Sie mir, Ihre Hunde haben nur wegen ein paar Wasserratten angeschlagen.«

8. Kapitel
Alexander Zorbach (Ich) (Auf dem Industriegelände Grünauer Straße 217)
    Wir hinterfragen meist nur unsere Fehler. Nie unsere Erfolge. Wenn etwas gutgeht, nehmen wir es als gottgegeben hin. Wir grämen uns, wenn wir Geld verlieren oder von der Liebe unseres Lebens verlassen werden. Doch weshalb sie bei uns bleibt, fragen wir uns ebenso selten, wie wir uns über eine bestandene Prüfung wundern. Dabei sind es meiner Meinung nach weniger die Fehler, aus denen wir Menschen lernen können, als die Erfolge, die wir nicht verdienen. Wenn wir diese nicht hinterfragen, lullen sie uns ein, machen uns selbstgefällig, und wir können sie niemals wiederholen.
    Die letzte Minute des Ultimatums brach an, als ich meine eigene Lebensweisheit vergaß.
    Der Eingang zum Bauträgerteil mit der Nummer 77 war nicht zu übersehen und lag im zweiten Hinterhof. Zum ersten Mal war Alina vorangegangen, denn hier, in dem ehemaligen Lagergebäude, war es finster wie die Nacht. Die einzigen Augen, die vielleicht noch etwas sehen konnten, waren die von TomTom.
    So kam es, dass wir eine Art unheimlicher Polonaise aufführten, bei der ich, meine Hand auf ihren Schultern, hinter ihr in ein nach Schmieröl und Brackwasser stinkendes Treppenhaus stieg. Dabei betete ich, dass mein Zeitgefühl mich trog und uns noch ein paar Minuten zur Verfügung stehen würden; ebenso wie ich eine unsichtbare Macht dar um anflehte, nicht der ziellose Spielball eines Irren geworden zu sein, der mich voller Schadenfreude ins Nichts führte.
    Am Ende blieb mir nicht einmal eine Sekunde mehr, um über den Wahnsinn zu reflektieren, den ich gerade durchlebte. Und es waren auch nicht TomToms, sondern meine Augen, die das erste Lebenszeichen sahen. Rot, glühend, rund.
    Ein kleiner Knopf in der Wand, nach dem man sucht, wenn im Treppenhaus eines Mietshauses das Licht ausfällt. Er leuchtete, was bedeutete, dass es in diesem Gebäude Strom gab.
    »Hier war jemand«, sagte ich leise und spürte, wie sich Alinas

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