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Der Augensammler

Der Augensammler

Titel: Der Augensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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gesprungen waren, um ihn aus Spaß daran zu hindern. Damals war er fest davon überzeugt gewesen, in wenigen Sekunden zu ersticken. Er hatte geschrien .
    ... wie ein Mädchen, scheiße, wie peinlich ... ... hatte angefangen zu heulen ...
    Nur in die Hose hab ich mir nicht gepullert. Auch wenn ich kurz davorstand...
    Und später, nachdem Herr Kerner den »Zwergenaufstand« beendet hatte, hatte er eine Woche lang nicht mehr mit Kevin geredet.
    Oder war es Jens? Ach, egal...
    Jetzt, da er mit eingezogenen Beinen auf dem kalten Fußboden lag und in die Abwesenheit von Licht starrte, merkte er, wie lächerlich seine Angst damals gewesen war. Die Matte hatte nicht an allen Ecken den Boden berührt, und so war noch genügend Luft zum Atmen vorhanden gewesen. Auch jetzt, da er sich aus der Kiste befreit hatte, war Sauerstoff nicht mehr das Problem. Er drang durch die Fugen der Metallkabine, in der er jetzt lag. Doch anders als an jenem Tag in der Turnhalle wurde ihm langsam klar, dass es hier keinen Herrn Kerner gab; keinen Sportlehrer, der dem Unfug ein Ende bereiten und die Matte von seinem Kopf reißen würde. Damals war der Spuk schon nach wenigen Sekunden vorbei gewesen, und jetzt lag Tobias schon fast zwei Tage in der Dunkelheit. Ohne Wasser, ohne Essen. Sein Verlies stank nach Urin und Kot, aber das merkte er nun nicht mehr. Er dämmerte weg.
    ... habe ich eigentlich meinen Atlas dabei?, fragte er sich. Nach Sport ist doch Erdkunde, und ich habe meinen Atlas vergessen ...
    Er hörte etwas knacken, direkt unter dem Stahlboden, gegen den er das Ohr presste. Der Boden hatte aufgehört zu schwanken, was vielleicht ein gutes Zeichen war. Überhaupt schien der gesamte Raum sich nicht mehr zu bewegen, so wie er es getan hatte, kurz nachdem er an dem verdammten Seil gezogen hatte.
    »Das Seil!«, stöhnte er. »Warum habe ich das nur getan?« Dann glitt Tobias wieder in seine fiebrige Gedankenwelt zurück, in der seine größte Angst darin bestand, einen Eintrag ins Klassenbuch zu bekommen.
    Herr Pohl gibt mir ein Minus, wenn ich schon wieder den Atlas nicht dabeihabe. Das wär dann das dritte Minus, und Papa wird echt sauer sein .
    Ein weiteres Geräusch schreckte ihn auf. Diesmal klang es angenehmer als das Dröhnen zuvor. Es war wie ein leises Flüstern. Sanft und einschläfernd. Tobias wollte wieder wegdämmern.
    ... denn bei drei Minus im Klassenbuch muss ich einmal nachsitzen ...
    Doch das wurde von einem neuen, ganz realen Gefühl verhindert. Denn auf einmal war sie überall, wo er sich abstützte, überall, wohin er in die Dunkelheit die Finger streckte, den Boden berührte: kalte, eisige, unsichtbare Nässe! Gierig öffnete er den Mund und leckte wie ein Hund mit der Zunge über den feuchten Boden. Wasser. Endlich.
    Die ersten Tropfen fühlten sich wie Säure an, die die aufgerauhte Kehle von innen verätzte, so lange hatte er nichts mehr getrunken. Dann wurde es etwas besser. Das Wasser, wo immer es auch herkam, drang von unten in das Versteck und stieg sekündlich höher, was ihm das Trinken erleichterte, aber dann wurde er zu gierig.
    Er verschluckte sich und begann zu würgen. Als er sich übergab, glaubte er, sein Schädel würde zerplatzen und in Stücken neben ihm in diese leicht salzig schmeckende Brühe fallen.
    Ich kann nicht mehr, dachte Tobias verzweifelt und fühlte sich plötzlich selbst zum Trinken zu schwach. Das Wasser umspülte erst wenige Zentimeter, dann immer mehr Regionen seines Körpers, kühlte ihn aus und sorgte dafür, dass ihn heftiger Schüttelfrost überfiel. Das war's. Ich geb auf.
    Das Schlucken, allein das Öffnen der Lippen erforderte übermenschliche Kräfte. An Aufstehen war gar nicht zu denken. Selbst das Liegen fiel ihm schwer. Wach zu bleiben schien unmöglich.
    Also ist es doch das Beste, ich schlafe wieder ein, dachte er, halb in der Gegenwart, halb schon in einer gnädigen Traumwelt.
    Dann kann Papi nicht böse sein, wenn ich einschlafe? Im Schlaf kriege ich doch kein Minus, oder? Er lag seitlich, wie ein Embryo gekrümmt, auf dem Boden, das linke Auge schon vollständig vom Wasser bedeckt, als irgendwo hinter den Wänden seines Verstecks jemand laut seinen Namen schrie.

13. Kapitel
    (Noch 10 Minuten bis zum Ablauf des Ultimatums)
Spezialeinsatzkommando (Auf dem Containerschiff)
    Tobias?«
    Wenige Minuten, nachdem die Männer das kastenförmige Schiff betreten und die Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens erkannt hatten, begannen sie damit, die Namen der Kinder zu brüllen.

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