Der Augensammler
Fabrik, keine Lagerhalle.«
Das kann nicht sein. Das Foto, die Zahlen. Das kann kein Zufall sein.
Wieso nur stimmten Alinas Visionen teilweise so sehr mit der Wirklichkeit überein und teilweise überhaupt nicht? »Und jetzt sehe ich übrigens nichts mehr, weil ...« »Weil was?«
»Nichts«, winkte sie ab, aber ich wusste, was ihr beinahe herausgerutscht wäre.
»Weil das Kind bereits gestorben ist.«
»Was ist mit TomTom?«, fragte ich.
»Er kann uns hier auch nicht helfen. Selbst wenn wir eine Geruchsprobe der Kinder hätten, er ist kein Fährtenhund.«
Ich weiß.
Ich wusste auch, dass das Ultimatum mittlerweile fast vollständig aufgezehrt war. Zwar hatte ich keine Uhr mehr, um es zu kontrollieren, aber ich ahnte, uns blieben nur noch Sekunden.
Denk nach, Zorbach, denk nach.
Zu allen Seiten standen leere, dunkle Gebäude. Eines sah aus wie das andere. In keinem brannte Licht, alle Tore standen offen, vor jedem Eingang stapelten sich geheimnisvolle Gegenstände. Ich konnte so vieles ausmachen und gleichzeitig keine besonderen Zeichen, keine Hinweise oder Wegweiser erkennen.
Der Augensammler will spielen. Er stellt klare Regeln auf. Fünfundvierzig Stunden, sieben Minuten ... Schon der erste Hof war so riesig, dass der Stapel LkwAutoreifen in seiner Mitte wie der Überrest eines Spielzeuglasters wirkte. Hier gab es eine Milliarde Möglichkeiten, die Zwillingskinder zu verstecken. Himmel, sie konnten direkt unter uns sein oder da drüben an der Wand, vor der sich leere Katzenfutterdosen stapelten. »Wohin willst du?«, hörte ich Alina rufen, als ich noch einmal zurück zur ersten Hofdurchfahrt ging, die zur Straße führte. Ich folgte mehr meinem Drang, irgendetwas zu tun, als einem konkreten Plan, als ich mein Handy öffnete und mit dem schwachen Schein des Displays auf die Tafel mit den alten Firmenschildern leuchtete.
Köpenicker Textilfabrik stand auf dem obersten und größten. Die anderen Emailleschilder waren entweder abgerissen, zerkratzt oder so verschmiert, dass man kaum mehr die Schrift entziffern konnte, in der ursprünglich die einzelnen Abteilungen durchdekliniert worden waren: Druck, Graphik, Verwaltung, Laden ...
Ich stützte mich mit der flachen Hand gegen die kalte Tafel.
Denk nach, Zorbach, denk nach. Er will, dass die Kinder gesucht werden. Es ist ein Spiel. Kein Spiel ohne Gewinnchance. Wenn er dir Hinweise gibt, dann nur, um eine Chancengleichheit herzustellen.
Wieso sollte er dich auf dieses Gelände locken, damit du hier versagst?
Vielleicht will er dich demütigen. Dich scheitern sehen, so knapp vor dem Ziel?
Vielleicht aber hat er hier einen weiteren Hinweis plaziert? Ich trat einen Schritt zur Seite und leuchtete jetzt auf eines dieser obligatorischen Warnschilder, das Unbefugten verbietet, eine baufällige Sperrzone zu betreten. Eine weitere Spielkarte? »Vorsicht Lebensgefahr«, las ich laut vor. Wie passend .
Dann fiel mein Blick auf die zweite Warnung, direkt darunter:
»Keller 77 komplett unter Wasser!«
Ich schrie so laut auf, dass TomTom im Hof anschlug.
Keller 77!
War das die Lösung? Eine weitere Spielkarte? Noch während ich zu Alina zurückrannte, blitzte das Foto in meiner Erinnerung wieder auf. Grünau 21.7. (77)
Von nun an ging auf einmal alles viel zu einfach.
10. Kapitel
(Noch 1 Minute bis zum Ablauf des Ultimatums)
Tobias Traunstein
Er schwamm. Er strampelte. Er starb.
Tobias hatte sich vor diesen Tagen in der Dunkelheit noch nie ernsthaft mit dem Tod auseinandergesetzt. Wieso auch, er war ja gerade erst neun geworden. »In dem Alter hat man noch so viel vor sich«, pflegte sein Opa immer zu sagen, wenn er sich an Feiertagen zu Hause blicken ließ. Scheiße, Opa. Hab nichts mehr vor mir. Mein Kopf klebt nämlich direkt unter der Decke in diesem Metallsarg, und ich habe noch einen winzigen Schlitz, durch den ich Luft sauge, und auch der füllt sich langsam mit Wasser. Er weinte und spuckte die ersten Tropfen wieder aus, die ihm in den Mund fließen wollten. Das Wasser war aus allen Ritzen des Metallbehältnisses geströmt, durch den Boden, die Fugen der Wände. Von der Seite, von oben und von unten, die Flut kam aus allen Richtungen und hatte einen Brunnen geformt, der jetzt bis unter die Decke reichte. Einen tiefen, dunklen, kalten Brunnen, in dem Tobias nun zu ertrinken drohte.
Ich ersticke, dachte er, so wie damals unter der Sportmatte, nur dass es diesmal völlig anders war. Damals hatte er auch geheult, doch insgeheim hatte er gewusst,
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