Der Augensammler
Schreie hören. Er spürte die stummen Vorwürfe, vor denen der Leiter der Gerichtsmedizin seine Studenten immer warnte: Selbst wenn es einem gelingt, genügend Abstand zwischen sich und das Entsetzen zu bringen, das auch den hartgesottensten Ermittler hin und wieder beim Anblick einer Leiche überfällt; selbst wenn man versucht, den von Menschenhand geschändeten, missbrauchten und ermordeten Körper, der wie ein Stück Müll entsorgt, den Insekten, Wild und Wetter überlassen wurde, nicht mehr als Individuum, sondern als Beweisstück zu betrachten -selbst dann kann man den Vorwurf nicht überhören, den die Leichen ihrem Finder entgegenbrüllen. Sie schreien mit den Augen.
Philipp Stoya wollte sich abwenden und die Ohren zuhalten, denn heute war der Schrei besonders laut. Die junge Frau war barfuß und nur mit einem dünnen Morgenmantel bekleidet, unter dem sie weder Slip noch BH trug. Lucia Traunstein lag bäuchlings auf dem Rasen, wenige Schritte von einem quaderförmigen Geräteschuppen entfernt, wo ihr Mann sie am Vormittag im Garten ihrer Stadtvilla gefunden hatte. Die Beine waren weit gespreizt und gaben den Blick auf ihre vollständig rasierte Scham preis. Dennoch hatten sie es hier mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mit einem Sexualdelikt zu tun.
Die verschwundenen Zwillingskinder Tobias und Lea und die Stoppuhr in Lucias Hand sprachen eine andere Sprache.
Die geisteskranke Sprache des Augensammlers, dachte Stoya.
Die grausamste Mordserie der Nachkriegszeit hatte vor drei Monaten begonnen, als Peter Strahl, ein zweiundvierzigjähriger Maurer, am Wochenende seine Familie besuchen wollte, nachdem er die letzten Wochen in Frankfurt auf einer Großbaustelle gelebt hatte. Die Ehe litt seit Jahren unter den regelmäßigen Phasen der Abwesenheit des Familienvaters, der diesmal besonders lange auf Montage gewesen war. Als kleine Entschädigung hatte er seiner Frau Blumen und für Karla eine Plastikpuppe mitgebracht. Beide Geschenke sollte er niemals übergeben. Er fand seine Frau mit gebrochenem Genick im Hausflur. Ihre Faust umschloss einen Gegenstand, der sich später als Stoppuhr entpuppte; ein handelsübliches Modell, das meistverkaufte in Deutschland.
Als der Mann von der Spurensicherung die Finger von dem Sport-Chronographen lösen wollte, wurde ein Countdown ausgelöst. Die Digitalanzeige setzte sich in Bewegung. Die Zeit lief rückwärts.
Der erste Gedanke galt einer Bombe, weshalb das gesamte Treptower Mietshaus mit allen zwölf Parteien sofort geräumt wurde. Doch am Ende musste man die grausame Lektion lernen, dass sich das Ultimatum auf Karla bezogen hatte. Die Kleine war spurlos verschwunden und tauchte auch nicht mehr lebend auf. Weder der Polizei noch dem verzweifelten Vater gelang es, das Versteck zu finden, in das der Psychopath das Mädchen verschleppt hatte. Ein Versteck, in dem es nach Ablauf der 45-Stunden-Frist ermordet wurde. Davon zumindest musste man nach den Erkenntnissen der Gerichtsmedizin ausgehen. Der Fundort der kleinen Karla, ein Feld am Stadtrand von Marienfelde, war mit Sicherheit nicht der Tatort, da es dort kein Wasser gab. Die Öffentlichkeit ging davon aus, dass die Kinder in ihrem Versteck erstickt waren, was im Grunde genommen auch stimmte. Allerdings hatte man aus ermittlungstaktischen Gründen eine wesentliche Erkenntnis der Obduktion verschwiegen: Die Opfer waren ertrunken. In dem Schaum, der sich bei Ertrinkenden nach dem reflexartigen Einatmen des Wassers in der Luftröhre bildet, fanden sich Spuren verunreinigten Brauchwassers. Da diese bei allen Opfern identisch waren, ging man davon aus, dass der Augensammler alle Kinder an denselben Tatort verschleppt hatte. Die Analyse des Wassers wie auch die der Hautverunreinigung sprachen nicht für ein natürliches Gewässer, was die Suche nach dem Versteck nicht gerade einschränkte. Jedes Haus mit Swimmingpool im Keller käme in Frage.
Sogar eine verdammte Badewanne wäre ausreichend, dachte Stoya.
Fest stand nur eines: Weder Karla noch Melanie oder Robert - die kindlichen Opfer, die wenige Wochen später folgten - waren in der freien Natur getötet worden. Und dort war ihnen auch nicht das linke Auge entfernt worden .
»Ich bringe ihn um«, hörte Stoya eine gepresste Stimme hinter sich sagen, während er reglos vor der Leiche kniete. Selbst dem Tod war es nicht gelungen, Lucia jene diät- und fitnessgestählte Attraktivität zu nehmen, die man oft bei Frauen findet, deren Männer wesentlich
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