Der Augensammler
älter, wesentlich hässlicher und - nicht zu vergessen - wesentlich reicher sind. Als Eigentümer der größten Reinigungskette Berlins hatte sich Thomas Traunstein bestimmt mehr als nur eine Villa leisten können. Und ganz sicher mehr als eine Frau wie Lucia.
»Ich bringe das Schwein um. Das schwöre ich!« Der Kollege, der sich von hinten über ihn beugte, passte kaum unter das Planenzelt, das die Kriminaltechniker erst vor wenigen Minuten im Garten aufgebaut hatten. Mike Scholokowsky war knapp zwei Meter groß und die Sorte von Freund, die man anrief, wenn man beim Umzug jemanden benötigte, der einen Kühlschrank in den fünften Stock wuchten sollte.
»Oder sie«, murmelte Philipp Stoya leise. Seine Knie knackten, während er sich langsam aufrichtete, den Blick unverwandt auf die tote Frau gerichtet. »Hä?«
»Du bringst ihn um, Scholle. Oder sie. Noch wissen wir nicht, welches Geschlecht der Täter hat.« Alle Opfer, sowohl die Frauen wie auch die Kinder, waren nicht besonders groß oder kräftig. Starker Widerstand musste also nicht gebrochen werden. Das Fehlen jeglicher Kampfspuren deutete darauf hin, dass der Täter das Überraschungsmoment für sich nutzte. Derjenige, der für den Tod von Lucia Traunstein und für die Entführung von Tobias und Lea verantwortlich war, konnte männlich oder weiblich sein oder gar im Team arbeiten, so viel hatte ihnen Professor Adrian Hohlfort, der Profiler, der mit ihnen an diesem Fall arbeitete, bereits verraten. Leider nicht sehr viel mehr.
Scholle zog die Nase hoch, rieb sich das Doppelkinn und starrte auf die Frau, deren Kopf in einem grotesken 90-Grad-Winkel verdreht auf dem Rumpf saß. Genickbruch. Ein weiterer Hinweis auf das Vorgehensmuster des Augensammlers.
Die weit aufgerissenen Augen der Toten starrten erstaunt an den beiden Ermittlern vorbei in den zugezogenen Wolkenhimmel.
Nein, sie starren nicht. Sie schreien.
»Fuck, ist mir egal.« Scholle spie die Worte förmlich in die kalte Luft. »Und wenn's eine verdammte Nonne war. Ich bring sie trotzdem um.«
Stoya nickte. Als Leiter der sechsten Mordkommission wäre es seine Pflicht gewesen, seinen Assistenten zu mehr Sachlichkeit anzuhalten. Stattdessen sagte er nur: »Und ich helfe dir dabei.«
Ich kann auch nicht mehr. Ich habe das alles so satt. Dieses Mal mussten sie die Runde des perversen Versteckspiels gewinnen und den Augensammler fassen, bevor das Ultimatum ablief und der nächste Jogger über eine erstickte Kinderleiche stolperte.
Eine Kinderleiche, der der Perverse das linke Auge entfernt hatte ... O Gott, was für ein Morgen. Stoya sah zu Scholle, der vor Wut am liebsten das Planenzelt zerrissen hätte, und musste sich wieder einmal eingestehen, dass er von anderen Motiven getrieben wurde als sein Partner.
Scholle wollte Rache. Er selbst wollte nur ein besseres Leben. Verdammt, er jagte schon seit über zwanzig Jahren irgendwelchen asozialen Schweinen hinterher, und zum Dank dafür sah er mit Mitte vierzig bereits aus wie ein verfaulter Apfel. Fleckige Haut, schrumpelige Augenringe und eine platte Stelle am Hinterkopf. Der Preis, den man für Dauerstress und Schlafentzug bezahlt. Das alles wäre kein Problem gewesen, wenn der Job wenigstens den Kontostand gebracht hätte, der Frauen in der Regel dazu verleitet, auf Äußerlichkeiten keinen Wert mehr zu legen. Aber Fehlanzeige. Er war Dauersingle, und die meisten Verbrecher, die er jagte, verdienten in einer Stunde mehr als er im ganzen Monat.
Scholle will Rache. Ich will Karriere.
Ja verdammt, im Gegensatz zu allen anderen war er sich nicht zu fein, es offen zuzugeben. Stoya wollte nicht mehr mit beiden Händen in der Scheiße wühlen. Sein Ziel war ein politischer Frühstücksdirektorenposten mit festen Arbeitszeiten, besserer Bezahlung und einem großen Schreibtisch, hinter dem man sich den Hintern platt sitzen konnte. Sollen doch die anderen im Regen neben einer nackten Frauenleiche knien.
Im Moment allerdings war er Lichtjahre von seinem Ziel entfernt, und sollte er nicht bald einen Erfolg vorweisen können, würde er von Glück sagen können, wenn er nicht wieder eine Uniform anziehen musste. Unterschiedliche Motive hin oder her, zumindest verfolgten er und Scholle dasselbe Ziel.
»Wir müssen den Wahnsinnigen finden.« Stoya tastete mit klammen Fingern nach dem kleinen Plastiktütchen in seiner Hosentasche. Sobald der Gerichtsmediziner eingetroffen war, der sich bereits telefonisch über die besonderen Umstände des Falles
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