Der Augensammler
zustimmend.
Meine Alpträume waren in mein Leben geschwappt. Besser konnte ich es nicht beschreiben. Erst roch, dann hörte und ganz zuletzt sah ich Dinge, die mich zuvor in meinen Alpträumen verfolgt hatten. Dabei ging es nicht immer um die Frau und das Baby auf der Brücke. Zwei Wochen nach der Tragödie träumte ich zum Beispiel von einem Blitz, der in Sekundenabständen immer wieder dicht neben mir einschlug. Barfuß rannte ich um mein Leben, verletzte mich an Glasscherben, Nadeln und rostigen Blechdosen, mit denen mein Weg gepflastert war. Viel zu spät merkte ich, dass der Blitz mich auf eine Müllhalde getrieben hatte, aus dessen Mitte ein golden leuchtender Baum hervorragte, unter dem ich Schutz suchte. Weiden sollst du meiden.
Ich weinte im Traum, weil ich nicht erkennen konnte, was für ein Baum es war, an den ich mich klammerte. Vor Eichen sollst du weichen.
Ganz sicher ging ich davon aus, in die Falle gerannt zu sein. Jeden Moment erwartete ich den tödlichen Einschlag. Buchen sollst du suchen.
Mit zitternden Fingern tastete ich die Rinde ab, und dann geschah das Entsetzliche. Der Baum veränderte sich. Die Rinde wurde weich, bekam eine geleeartige Konsistenz. Etwas Klebriges blieb an meinen Fingern hängen. Als ich die Maden erkannte, die sich nicht nur in meiner Hand, sondern überall um mich herum wanden, begann ich zu schreien. Und als ich sah, dass der Baum und mit ihm die gesamte Müllhalde eine einzige Formation aus Käfern, Maden und Würmern war, brüllte ich mich wach. Doch der faulige Gestank der Deponie füllte auch nach dem Aufwachen mein Zimmer. Ich lief zum Fenster, riss es auf und konnte immer noch nicht richtig atmen. Keine frische Luft, sondern ein neuer, nicht minder ekelhafter Geruch waberte in das Schlafzimmer. Und obwohl es ein sonniger, wolkenloser Sonntagmorgen war, schoss ein Blitz vom Himmel und traf in den Baum vor dem Fenster. Der Baum explodierte und zerfiel in Tausende von Maden, die sich zu einem konvulsivisch zuckenden Strom formierten, der sich über den Rasen ergoss und Kurs auf unser Haus nahm.
In dem Moment, in dem die Maden bereits die Fassade zu mir heraufkrochen, packte mich etwas von hinten und riss mich vom Fenster weg. Nicci.
Meine Schreie hatten sie geweckt und in Todesschrecken versetzt. Später sagte sie, ich habe eine geschlagene Stunde gebraucht, um mich wieder zu beruhigen. »Damals wurden Sie sofort medikamentös eingestellt«, fuhr Dr. Roth fort und blätterte eine Seite in meiner Patientenakte weiter.
»Man gab Ihnen Neuroleptika, und Ihr Zustand besserte sich, bis die Symptome nach gut zwei Jahren vollständig verschwanden.«
»Um gestern wieder aufzutreten.« »Nein.«
Dr. Roth sah von der Akte auf, wieder umspielte dieses ungewohnte Lächeln seine Lippen. »Nein?«, fragte ich erstaunt.
»Sehen Sie, nach der kurzen Zeit, die ich Sie jetzt kenne, kann ich natürlich keine abschließende Diagnose stellen. Und die Visionen, die Sie überfallen haben, will ich auch nicht in Abrede stellen. Ich bezweifle nur stark, dass sie schizophrener Natur sind.« »Wieso?«
»Ich will mich nicht vorschnell aus dem Fenster lehnen.
Geben Sie mir bitte noch bis morgen Zeit, dann habe ich das komplette Blutscreening und weiß, ob sich mein Verdacht bestätigt.«
Ich nickte, ohne zu wissen, was ich davon halten sollte. Jeder andere Patient hätte sich über Roths Vermutung sicherlich gefreut, und auch ich wollte nur zu gern daran glauben, dass es für meine Symptome eine harmlose Erklärung gab. Doch wenn ich nicht an Wahrnehmungsstörungen litt, würde das ja bedeuten, dass .
... die Stimmen real waren. Und dann besteht eine Verbindung zwischen mir und dem Augensammler . Bei diesem Gedanken legte sich ein Fiepen auf mein rechtes Ohr, als hätte jemand eine Stimmgabel neben meinem Kopf angeschlagen. Ich versuchte zu lächeln und stand auf, um Dr. Roth zum Abschied die Hand zu geben. Doch es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren. Nachdem ich das Sprechzimmer verlassen hatte, wollte ich noch einmal umkehren, um ihn nach einem Rezept für ein Schlafmittel zu fragen, da ich in den letzten Nächten kaum ein Auge zugetan hatte, als mein Handy in meiner Hosentasche vibrierte.
Ruf mich an!, lautete die Textnachricht, und das Fiepen in meinem Ohr wurde wieder lauter. Schnell. Bevor es zu spät ist.
Rückblickend betrachtet, glaube ich, dass damit der Wettlauf mit dem Tod begann.
75. Kapitel
Was ist denn los?«
Frank hatte nach dem ersten Klingeln abgenommen und
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