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Der Augensammler

Der Augensammler

Titel: Der Augensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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doch auf der Fahrt war ihr schlecht geworden, und sie musste umgehend anhalten. Während der Druck unter ihrer Schädeldecke nachließ, sah sie sich die Stelle, an der sie sich übergeben hatte, genauer an. Und dabei entdeckte sie den kleinen, vergessenen Forstweg, kaum breiter als ein Kleinwagen, dessen Verlauf in keiner Karte verzeichnet und dessen Zufahrt durch einen querliegenden großen Holzstamm versperrt war.
    Es gibt in Berlin viele wunderschöne Stellen am Wasser. Orte, an denen man vergisst, dass man sich in einer Millionenstadt befindet, zum Beispiel, wenn man am Strand sitzt und den Blick über den See zur Pfaueninsel schweifen lässt. Das Problem ist nur, dass diese Plätze niemals abgeschieden sind. Je schöner der Strand, desto bekannter ist er unter den Ausflüglern. Als meine Mutter an jenem Tag von dem Weg zu einem winzigen, nahezu unberührten Uferabschnitt geführt wurde, wusste sie, dass sie eine Rarität gefunden hatte, eine versteckte Oase inmitten der Großstadt. Vielleicht war es auch nur die Tatsache, dass ihre Kopfschmerzen hier schlagartig besser wurden, weshalb sie dieses Refugium für sich bewahren wollte und niemandem außer mir davon erzählte. Damals wussten wir noch nicht, dass es keine Migräne war, unter der sie litt, sondern Polyzythämie, eine unheilbare Blutkrankheit, die das Blut verdickte und ihre Adern verstopfte.
    Als sie mich zum ersten Mal dorthin mitnahm, stellte ich fest, dass sich der Stamm mit wenig Mühe zur Seite rollen ließ. Weitaus störender waren die wilden Brombeersträucher, die seitlich in den Weg hineinwucherten und vor dessen Dornen man sich in Acht nehmen musste. Heute, all die Jahre später, drehte ich mich zu meinem Wagen, dessen Scheinwerfer noch brannten, damit ich in der einsetzenden Dunkelheit überhaupt etwas erkennen konnte. Abertausende Schneeflocken wirbelten in den mattgelben Lichtkegeln, was die Szenerie märchenhaft wirken ließ. Die Scheinwerfer begannen zu flackern, und diese Unruhe übertrug sich auf mich. Ich sah mich prüfend um. Außer einem Wildschwein, das in zwanzig Meter Entfernung mit der Schnauze durch das Unterholz stöberte, schien es kein weiteres Lebewesen zu geben. Selbst der allgegenwärtige Lärm der Stadt war verschwunden, als hätte jemand die Tonspur mit den Verkehrsgeräuschen einfach ausgeschaltet. Also los.
    Ich stemmte mich gegen den feuchten Holzstamm, der sich mit einem schmatzenden Geräusch vom Erdboden hob und problemlos zur Seite drehen ließ.
    Nachdem ich mich vergewissert hatte, weiterhin ohne Beobachter zu sein, setzte ich mich wieder in meinen Volvo und fuhr im Schritttempo in den Wald. Die Dornenäste der Brombeersträucher kratzten wie Fingernägel auf einer Schultafel am Autolack. Schnee löste sich aus einer Baumkrone und fiel in dichten Klumpen auf meine Windschutzscheibe. Ich schaltete die Scheibenwischer an. Nach wenigen Metern stieg ich wieder aus, um meine Spuren zu verwischen. Ich rollte den Baumstamm zurück in seine Position, drückte die Äste der Sträucher wieder nach vorne und war mir sicher, dass jeder die geheime Zufahrt übersehen würde, zumal es an dieser Stelle auch keinen Grund gab, sich umzuschauen. Laut den Wegweisern waren die befestigten Wanderwege, die Kirche, das Restaurant und der Friedhof noch gut einen Kilometer entfernt. Hier gab es keine Freizeitziele, noch nicht einmal einen Parkplatz. Wenn hier jemand anhielt, dann rein zufällig, so wie damals meine Mutter.
    Zurück im Wagen, fuhr ich langsam weiter. Nach einer engen Linkskurve stellte ich das Auto ab. Ich stieg aus und löste mit einem Schweizer Taschenmesser die Nummernschilder ab. Damit wirkte mein zerbeulter Volvo wie ein ausrangiertes Wrack, das ein Umweltsünder rücksichtslos in der Natur entsorgt hatte. Der Förster würde gewiss die Behörden verständigen, aber bei diesem Sauwetter ließen die sich hier ebenso selten blicken wie Waldarbeiter. Außerdem hatte ich nicht vor, zu überwintern. Alles, was ich brauchte, waren ein, zwei Tage Ruhe.
    Ich legte die Nummernschilder in den Kofferraum, griff mir die Laptop- und die Sporttasche und folgte dem immer schmaler werdenden Pfad. Er lief leicht abschüssig in engen Kurven nach unten, und ich musste aufpassen, dass meine Stiefel den Halt auf dem Boden nicht verloren; besonders die vereisten Baumwurzeln, die dem Weg am Ende eine treppenähnliche Struktur gaben, waren kreuzgefährlich. Zum Glück hatte ich an eine Taschenlampe gedacht und konnte sowohl die

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