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Der Augensammler

Der Augensammler

Titel: Der Augensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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und ließ den Lichtkegel der Taschenlampe über das fleckige Holz der Vorderfassade wandern.
    Der Kahn war seit einer Ewigkeit nicht gewartet worden, und ich befürchtete, dass es eine Weile dauern würde, bis ich den Generator in Gang bekam. Im schlimmsten Fall müsste ich mich mit Kerzen und einem Campingkocher begnügen. Was die Wärme anbelangte, so war auf den alten Holzofen im Wohnzimmer des Hausboots Verlass, und das geschlossene Toilettensystem funktionierte auch ohne Strom.
    Ich wollte gerade wieder nach meinen Taschen greifen, da änderte sich mein Gemütszustand abrupt. Das Gefühl von Ruhe und Zufriedenheit war mit einem Mal verschwunden. Das hatte ich hier noch nie erlebt. Ich näherte mich meinem Hausboot mit angespannter Nervosität. Aus der Nervosität wurde Angst, und diese wuchs mit jedem Schritt zum Ufer hin. Zunächst hielt ich meine Furcht für irrational, da ich mir ihre Ursache nicht erklären konnte, doch dann sah ich es. Das Glimmen.
    Den Grund, weshalb ich auf einmal fliehen wollte. Fort von meinem Versteck. Von diesem Ort, den niemand kennt. Niemand außer der Person, die sich im Inneren des Hausboots gerade eine Zigarette angezündet hatte.

72. Kapitel
    Für meinen ersten Artikel in meiner neuen Funktion als Polizeireporter durfte ich ein älteres Ehepaar interviewen, in dessen Wohnung eingebrochen worden war. Das Schlimme an der Tat, sagten sie mir, sei nicht der Diebstahl der Wertgegenstände; ja, noch nicht einmal der Verlust ihrer unersetzbaren immateriellen Güter wie Fotos, Reiseandenken und Tagebücher. Das wirklich Entsetzliche sei, dass sie sich von nun an vor dem Betreten ihrer eigenen Wohnung ekelten.
    »Indem sie unsere Schubladen durchwühlten, unsere Wäsche angrabschten, ja, allein, indem sie die Luft in unseren vier Wänden atmeten, haben die Schurken unsere Intimsphäre geschändet.«
    Der 72-Jährige hatte damals das Reden übernommen, während seine Frau ihm die Hand hielt und bei jedem Wort zustimmend nickte.
    »Wir wurden nicht bestohlen. Wir wurden vergewaltigt.« Damals hielt ich die Reaktion für maßlos übertrieben. Jetzt, in dem Moment, in dem ich versuchte, die Außenreling geräuschlos zu betreten, verstand ich, was die älteren Herrschaften mir zu erklären versucht hatten. Wer immer dort im Inneren des Hausboots in der Dunkelheit auf mich wartete, hatte das Gefühl von Geborgenheit, mit dem mich dieser Ort bislang stets begrüßt hatte, zerstört.
    Ich klappte die längste Klinge meines Schweizer Taschenmessers auf und schlich die Stufen zum Mitteldeck hinunter. Im Zweifelsfall würde die Stabtaschenlampe ein zusätzliches Verteidigungsmittel sein.
    Die robusten Planken knarrten, als ich die letzte Stufe vor der Kabine betrat, die ich mir in wochenlanger Bastelarbeit zu meinem Wohn- und Arbeitszimmer umgebaut hatte. Wenn sich der Einbrecher noch in der Hauptkabine befand, dann hatte ich ihm den einzigen Fluchtweg versperrt, es sei denn, er sprang durch eines der großen Sprossenfenster in den See. Ansonsten gab es keine Möglichkeit, sich auf Dauer zu verstecken.
    Mein Hausboot war nicht größer als eine geräumige Garage. Neben einer kleinen Kombüse und der noch winzigeren Toilette verteilte sich die Grundfläche auf zwei nebeneinanderliegende Kabinen im Mittelschiff, wobei ich gerade vor der geräumigeren von beiden stand, die man durchqueren musste, wenn man in das am Bug des Schiffes gelegene Schlafzimmer wollte. In der Haupteingangstür, die ich all die Jahre unverschlossen gehalten hatte, befand sich etwa in Kopfhöhe eine Glasscheibe, durch die ich jetzt vorsichtig ins Innere spähte.
    Abgesehen von dem roten Punkt, der wie ein Glühwürmchen in der linken Ecke des Raumes in der Luft schwebte, lag die Kabine in totaler Finsternis. Das Hausboot lag in seinem natürlichen Hafenversteck von Bäumen und Sträuchern derart abgeschirmt, dass ich Mühe hatte, die Türklinke zu erkennen.
    Ich hielt die Luft an, lauschte auf das Pochen meines Herzens und stellte mich auf eine körperliche Auseinandersetzung ein. Als ich mich gewappnet fühlte, riss ich die Tür auf, sprang in die Wohnkabine und brüllte mit aller Kraft: »HÄNDE HOCH!«
    Im selben Moment schaltete ich die Taschenlampe ein und leuchtete auf das ausladende Sofa, das direkt unter dem Fenster zum See stand.
    Mit allem hatte ich gerechnet: mit einem Penner, der es sich über die kalten Tage in meinem Hausboot gemütlich gemacht hatte, oder sogar mit Stoya, dem es irgendwie gelungen war, mein

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