Der Augensammler
Handy auf den Beifahrersitz. Wenn man dich einmal braucht, dachte ich und konzentrierte mich auf die Straße.
Über unsere ebenso zahlreichen wie merkwürdigen Treffen war ich so etwas wie Charlies Vertrauter geworden. Ein Psychologe, der seine Therapiesitzung ab und an unterbrach, damit sich seine Patientin mit einem ansprechenden Sexualpartner auf der Spielwiese vergnügen konnte, während sich ihr Vertrauter an der Bar an einem Gin Tonic festhielt.
Stundenlang habe ich dir zugehört. Auf dich gewartet. Heute wäre ich derjenige, der einen Rat von ihr gebraucht hätte, doch ich verwarf rasch den Gedanken, zum »Triebhaus« zu fahren, um nachzusehen, ob ich sie dort antreffen würde. Scheißegal.
Es war nicht das erste Mal, dass ich es alleine schaffen müsste. Alles, was ich brauchte, war ein Platz, an dem ich zur Ruhe kommen konnte. Wo ich den Kopf freibekam. Einen Ort, an dem mich niemand finden würde, solange ich es nicht wollte.
Kurz, ich musste dorthin fliehen, wo ich mich das letzte Mal vor zwei Jahren versteckt hatte, nachdem ich versucht hatte, meine Mutter umzubringen.
73. Kapitel
(Noch 11 Stunden und 51 Minuten bis zum Ablauf des Ultimatums)
Der erste Schnee fiel anderthalb Stunden später und damit etwas zu früh. Hätte er sich nur ein paar Minuten länger Zeit gelassen, hätte mein Volvo weniger auffällige Reifenspuren auf dem Waldweg hinterlassen. Allerdings bezweifelte ich, dass mir irgendjemand hier raus nach Nikolskoe gefolgt war. Das hügelige Waldgebiet zwischen Berlin und Potsdam war ein beliebtes Ausflugsziel. Doch zum Glück nicht im Winter, wenn sowohl die Fähranlegestelle zur Pfaueninsel als auch die beiden Restaurants geschlossen blieben.
Zuvor hatte ich noch einen Abstecher in meine Wohnung gemacht und mich mit einem Vorrat an Dosenravioli und Mineralwasser eingedeckt. In meiner »Notfalltasche«, die jetzt im Kofferraum lag, befanden sich weiterhin Wäsche zum Wechseln, mein Ersatzhandy mit einer nicht auf mich registrierten Prepaid-Karte (das ich hin und wieder brauchte, wenn ich mit Informanten telefonierte, deren Apparat eventuell von der Polizei überwacht wurde) und mein Laptop.
Wie kommt meine Brieftasche an den Tatort? Scheiße, wie bin ich selbst dorthin gekommen?
Ich versuchte, die Fragen, auf die ich eine Antwort finden wollte, noch so lange zurückzustellen, bis ich mein Refugium erreicht hatte. Natürlich gelang es mir nicht. Ich konnte sie ebenso wenig ignorieren wie den blinkenden Anrufbeantworter in meiner Wohnung, auf dem Stoya mehrere aufgeregte Nachrichten hinterlassen hatte. Noch bat er mich, persönlich auf dem Revier vorstellig zu werden, was die Vermutung nahelegte, dass bislang kein Haftbefehl gegen mich vorlag.
Ein kurzer Rückruf bei meiner aufgebrachten Chefredakteurin hatte auch kein Licht ins Dunkel gebracht. »Wo zum Teufel stecken Sie?«, hatte mich Thea Bergdorf am Telefon begrüßt und dabei noch ruppiger geklungen als sonst.
»Sagen Sie Stoya, ich komme vorbei, wenn ich wieder in Berlin bin«, bat ich sie. Bevor sie mir antwortete, konnte ich hören, wie sie die Glastür zur Großraumredaktion schloss, um mich besser anbrüllen zu können. »Sie schwingen Ihren Arsch jetzt sofort zurück in die Redaktion, Freundchen. Hier geht es nicht nur um Ihre Existenz, sondern um den Ruf dieser Zeitung. Wissen Sie, was die Leute denken werden, wenn sie nur den Furz eines Verdachts schnuppern, dass es da eine Verbindung zwischen unserem Starreporter und dem Augensammler geben könnte?«
Kein Wunder, dass seine Storys so gut recherchiert waren. Er hat ja selbst für die Fakten gesorgt. Natürlich wusste ich das. Deshalb war es ja so wichtig, dass ich mich nicht ohne Vorbereitung in die Höhle des Löwen begab. Ich wusste aus eigener Erfahrung, was passieren würde, wenn sich die Polizei erst einmal auf einen Verdächtigen einschoss. Noch dazu auf einen ehemaligen Polizisten, dessen Gewaltbereitschaft aktenkundig war. Die Medien, allen voran die Zeitung, die mich später einstellte, hatten mich als Helden gefeiert, was ich damals ebenso unerträglich gefunden hatte wie die zahllosen Vernehmungen durch die Untersuchungskommission und den Staatsanwalt.
Ich parkte meinen Wagen wenige Meter hinter dem Moorlakeweg an einem Hinweisschild, das das Areal als Wasserschutzgebiet auswies, und stieg aus.
Meine Mutter hatte den Pfad, der zehn Schritte östlich vom Schild begann, nur durch Zufall entdeckt. Sie hatte an der Nikolskoer Kirche spazieren gehen wollen,
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