Der Augensammler
Stolpersteine als auch die nassen Tannenzweige sehen, bevor sie mir ins Gesicht klatschten. Mir erschien der Weg länger als bei meinem letzten Besuch, das lag vermutlich an dem schweren Gepäck, das ich geschultert hatte. Denn als ich auf meine Uhr sah, zeigte sie erst 18.42 Uhr an. Ich hatte also nur wenige Minuten für meinen Abstieg zum Wasser gebraucht.
Hier ist es.
Immer, wenn ich hier unten am Ufer ankam, merkte ich, wie viel seelischen Ballast ich mit mir herumschleppte.
Mein Versteck.
Der Ort, an dem es mir gelungen war, die Tragödie so weit hinter mir zu lassen, dass ich heute wieder ein halbwegs normales Leben führen konnte. Selbst bei minus zwei Grad und dichtem Schneefall fühlte ich mich sofort geborgen. Nicci hätte sicher magische Kräfte oder heidnische Energiefelder für mein plötzliches Wohlbefinden verantwortlich gemacht. Doch für mich gab es eine viel banalere Erklärung: Hier, in dieser verborgenen Bucht, war mir noch nie etwas Schlimmes zugestoßen. Im Gegenteil. Hier hatte ich die schönsten Stunden meines Lebens verbracht, allein mit mir selbst, ohne irgendjemandem Rechenschaft schuldig zu sein.
Deshalb kam ich immer wieder hierher, wenn ich das Gefühl hatte, mir würde mein Leben aus den Händen gleiten. Noch während meiner Zeit bei der Polizei hatte ich den irrwitzigen Plan Realität werden lassen und ein altes Hausboot gekauft, um es hier vor Anker gehen zu lassen. Der Strahl meiner Taschenlampe erfasste den kleinen, kastenförmigen Holzkahn wenige Schritte vor mir. Er lag in einem schmalen Seitenarm einer noch engeren Bucht, dicht überwuchert von mehreren Weiden, die mit ihren Laubdächern eine Art natürlichen Carport bildeten, nicht einzusehen vom Wasser.
»Ich bin wieder da«, sagte ich und stellte die Taschen ab. Ein altes Ritual, das auf meine Mutter zurückging. Damals, als sie noch so gut bei Kräften war, dass sie mich begleiten konnte, hatte sie sich immer mit diesen Worten dem Ufer genähert.
Ich bin wieder da.
Ich hatte die Begrüßung nur geflüstert, dennoch hallte meine Stimme meterweit über das Wasser. Bald würde es gefroren sein, und dann war es noch unwahrscheinlicher, dass sich jemand hierher verirrte.
Hier zu diesem Ort, den ich mit niemandem teile. Mein Refugium, dessen Adresse keiner kennt, nicht einmal meine Familie.
Natürlich war es höchst albern, dass ich als erwachsener Mann den Gedanken an ein geheimes Versteck immer noch romantisch fand. Schon als Kind hatte ich mit Kissen und Decken Höhlen unter meinem Hochbett gebaut und mir vorgestellt, ich wäre der einzige Mensch auf der Welt. Damals träumte ich von einsamen Inseln, von selbst gezimmerten Baumhäusern, weit oben in den Wipfeln der höchsten Bäume. Vermutlich erinnerte mich diese Bucht an all die Refugien, die damals nur meine Phantasie bevölkert hatten. Und wenn ich ganz ehrlich war, dann hatte sich die Geheimiskrämerei um diesen Ort mittlerweile verselbständigt.
Lange Zeit war es mir schlicht peinlich gewesen, meinen Freunden gegenüber zuzugeben, dass ich am Wochenende lieber alleine in der Natur meinen Gedanken nachhing, als mich ihren Sprechchören in der Fankurve des Olympiastadions anzuschließen. Später fand ich es einfach beruhigend, über einen geheimen Ort zu verfügen, an dem man mich auch dann nicht suchte, wenn ich unentschuldigt der Arbeit fernblieb. Das erste Mal, als ich das dringende Bedürfnis verspürte, mein Geheimnis mit jemandem zu teilen, war, als ich Nicci kennenlernte, in der ersten Phase des Verliebtseins, in der man seinen Partner selbst dann noch vermisst, während man mit ihm schläft. Ich versprach ihr einen romantischen Ausflug, auf dem ich sie mit verbundenen Augen zu »meiner Bucht« führen wollte, wo ihr erster Blick auf das von Fackeln illuminierte Hausboot fallen sollte.
Doch aus dem Plan wurde nichts. Mein Käfer gab auf halber Strecke den Geist auf, blieb mitten auf der Kreuzung stehen. Einfach so, völlig ohne Grund, wie der Mann vom ADAC mir später schulterzuckend bestätigte. Er konnte keine Ursache finden, und das Mistding, das mich zuvor noch nie im Stich gelassen hatte, sprang sofort wieder an, als er den Zündschlüssel drehte. Nennen Sie mich einen Idioten. Nennen Sie mich einen Esoteriker. Und vielleicht sind mir Niccis spinnerte Gedankengänge in Wahrheit ja doch nicht so fremd, wie ich immer behaupte. Jedenfalls wertete ich das als Zeichen.
Es soll nicht sein. Ich soll niemanden hierher mitbringen. Ich sog die kalte Luft ein
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