Der Augensammler
wieder anzuschrauben. Bislang hatte ich mehr Glück als Verstand gehabt. Wenn ich die Zeit nutzen wollte, die mir noch blieb, bis sie mich fanden, musste ich ab sofort etwas geschickter vorgehen. Und dazu zählte, dass ich mir ein Auto besorgte, das noch nicht auf irgendeiner Fahndungsliste stand. »Wieso stellst du dich nicht einfach?«, wollte Frank wissen. »Ich meine, wenn du nichts getan hast, kann dir doch nichts passieren.«
Das Problem ist, ich kann denen nicht erklären, wieso ich am Tatort war, wie meine Brieftasche dorthin kam und weshalb ich von dem Ultimatum weiß. »Gegenfrage: Was würdest du tun, wenn sich bei dir plötzlich eine Zeugin meldet, die behauptet, sie habe den letzten Mord des Augensammlers beobachtet?« »Kein Scheiß?«
Ich verschwieg ihm, dass es sich bei meiner Zeugin um ein blindes Medium handelte, das die letzten Kilometer neben mir erschöpft mit dem Kopf am Fenster gelehnt hatte. Vermutlich war der Ausflug zum Hausboot für sie doch anstrengender gewesen, als sie zugeben wollte. »Mann, das wär die Story des Jahrhunderts.« O ja, und was für eine. Du wirst es nicht glauben ... »Also bring mir dein Auto.«
Frank seufzte. »Hey, die Karre gehört meiner Oma. Die bringt mich um, wenn ich auch nur einen Kratzer in ihren Toyota bügel.«
»Ist ja gut, Frank, ich pass auf. Wir treffen uns in zehn Minuten.« Ich hatte das Ende der Straße erreicht und legte auf.
»Wir sind da«, sagte ich zu Alina, nachdem ich den Volvo mit zwei Reifen auf dem gepflasterten Bürgersteig abgestellt hatte. Wir parkten vor dem Vordereingang der kleinen Stadtvilla, in deren Garten gestern Vormittag Thomas Traunstein die Leiche seiner vierzehn Jahre jüngeren Frau Lucia gefunden hatte. Das cremegelb verputzte Backsteinhaus mit der reetgedeckten Garage war das einzige in der Straße, in dem keinerlei Lichter brannten. Stockfinster. Selbst die beleuchtete Hausnummer war abgeschaltet. Alina streckte sich und gähnte. Dann befreite sie ihre Armbanduhr von den Ärmeln ihrer zahlreichen Pullis und öffnete den Deckel über dem Ziffernblatt. »Was wollen wir hier?«, fragte sie schläfrig. »Herausfinden, ob Sie schon mal hier gewesen sind.« Ich öffnete die Fahrertür, und ein Schwall eisiger Luft schwappte ins Auto. TomTom richtete sich auf der Rückbank auf und begann zu hecheln.
»Sie meinen, Sie wollen herausfinden, ob ich den Ort in meinen Visionen schon einmal gesehen habe?«
Die Windschutzscheibe beschlug von ihrem Atem.
Ja. Warum nennen wir den Wahnsinn nicht beim Wort? Ich will wissen, ob eine blinde Zeugin hier einen Mord gesehen hat.
Ich stieg aus. Meine Augen begannen zu tränen, als ich mich gegen den Wind stellte und in die Richtung sah, wo die Straße zum Waldweg wurde, der an mehreren Sportplätzen entlang direkt zur Teufelsseechaussee führte. Und damit zum Teufelsberg.
Ich rief mir Alinas Beschreibung in Erinnerung und fragte sie: »Wie lange hat es gedauert, bis Sie den Hügel erreicht hatten?«
»Ich weiß noch, dass wir eine Weile bergauf gefahren sind, es gab mehrere Kurven ...«
»Keine Ahnung«, sagte sie. »Haben Sie denn ein Zeitempfinden, wenn Sie träumen?«
Nein. Aber in meinen Träumen verschleppe ich auch keine kleinen Kinder.
Ich hob den Kopf und sah schräg in den schwarzgrauen Himmel in die Richtung, in der ich den Teufelsberg vermutete. Der Hügel ist eine ehemalige Mülldeponie, ein von Wald und Wiesen überwucherter Schuttberg, aufgetürmt aus den Trümmern der Häuserschlachten des Zweiten Weltkriegs. Heute dient er den Berlinern als Naherholungsgebiet, die dort spazieren gehen, Drachen steigen lassen oder mit ihren Schlitten die Hänge herunterjagen. Ich fragte mich, ob man von seiner Spitze aus bei Tageslicht einen Blick auf den Garten der Traunsteins hätte. Im Dunkeln konnte ich das nicht erkennen, aber selbst mit einem Fernglas in der Hand erschien mir der Teufelsberg dafür viel zu weit entfernt.
Na, was dachtest du denn, du Idiot?, fragte ich mich in Gedanken und drehte mich zur Villa. Hast du wirklich geglaubt, an der verrückten Story der Blinden sei was dran? Ich lehnte mich mit dem Rücken an meinen Wagen und überlegte mir die nächsten Schritte. Der Vorgarten war nur durch einen niedrigen Zaun gesichert, den ich zu meinen besseren Zeiten locker übersprungen hätte. Auch heute dürfte er kein größeres Hindernis für mich darstellen. »Ich will ja nicht meckern«, sagte Alina hinter mir. »Aber es ist jetzt kurz vor neun, und ich bin immer noch
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