Der Augensammler
Kerlen getrieben, und er glaubt, die Kinder sind nicht von ihm.« »Du sagst mir jetzt sofort, wo du bist!« Stoyas Stimme hatte sich verändert. Die Wut war in den Hintergrund gerückt, er klang, wenn mich nicht alles täuschte, mit einem Mal sehr viel unpersönlicher - als hätte ich den letzten Restzweifel an meiner Schuld endgültig zerstört. »Ich bin unterwegs. Aber mach dir nicht mehr dir Mühe, nach meinem Volvo zu fahnden. Er steht am Kühlen Weg, der Schlüssel steckt.«
Ich sah zu Frank, der gerade den Blinker setzte, um sich in den Kreisverkehr des Theodor-Heuss-Platzes einzufädeln. Mein Wagen war bestimmt zehn Jahre jünger, sah aber lange nicht so frisch aus wie unser neues Fluchtfahrzeug. Der Toyota wirkte, als hätte er mit Ausnahme einiger Sonntagsfahrten nur bei Franks Oma in der Garage gestanden. Kein Kratzer im Armaturenbrett, gerade mal zwölftausend Kilometer auf dem Tacho und Fußmatten, die nach jeder Fahrt gesaugt worden waren. Das Handschuhfach war übersät mit sorgsam aufgeklebten Binsenweisheiten:
Carpe diem Morgenstund hat Gold im Mund Es ist einfach, die Zukunft vorherzusagen, wenn man sie gestaltet Ich gab Stoya einen letzten Rat: »Lass meine Karre auf Spuren untersuchen, du wirst nichts finden, was mich mit dem Augensammler in Verbindung bringt.« »Da habe ich ja jetzt wohl schon genug zusammen ...«, hörte ich ihn noch sagen, bevor ich die Verbindung unterbrach.
Dann drehte ich mich zu Frank.
»Du hattest was mit ...«, wollte der gerade ansetzen, doch ich unterbrach ihn hastig, indem ich unauffällig in Alinas Richtung deutete.
»Danke, dass du so schnell gekommen bist.« Frank nickte verständnisvoll und ließ sich auf meinen Smalltalk ein. »Ich musste einen passenden Moment abwarten, um unbemerkt aus der Redaktion zu verschwinden.« Es gelang ihm, ein Gähnen zu überspielen, nicht aber den übermüdeten Gesamteindruck, den er auf mich machte. Der arbeitsbedingte Schlafmangel hatte ihm tiefe Schatten unter die Augen gemeißelt, und auch sonst erinnerte er mich an mein eigenes Spiegelbild nach einer durchzechten Nacht. Die wenigen Monate in der Redaktion hatten den Jungen mit dem Zwiebackpackungsgesicht in den Prototyp eines Internetjunkies verwandelt: ungewaschene Haare, unrasiertes Gesicht, unvollständige Kleidung (in seinen Schuhen fehlten die Schnürsenkel, und unter seiner Daunenjacke trug er nichts als ein ausgebleichtes Depeche-Mode-T-Shirt), dafür eine unfassbare Fokussierung auf die Arbeit. Ich bezweifelte, dass er eine Freundin hatte, die es tolerierte, wenn er nachts um halb drei nach Hause kam -nicht etwa, um zu schlafen, sondern nur, um kurz zu duschen, bevor er den nächsten meiner Rechercheaufträge abarbeitete.
»Darf ich übrigens vorstellen, das ist Alina Gregoriev«, sagte ich und drehte mich zur Rückbank. »Die Zeugin, von der ich dir erzählt habe. Neben ihr sitzt TomTom, ihr hechelndes Navigationsgerät.«
»Sehr erfreut.« Frank blickte kurz in den Rückspiegel. »Und ich bin der Idiot, der sich gerade von seinem Boss in die Scheiße reiten lässt.« »Willkommen im Club«, sagte Alina. Ich hob die Hände. »Kein Grund zur Panik, Leute. Ich bin weder verurteilt noch verhaftet. Nur verdächtigt. In Deutschland muss sich niemand selbst anzeigen, also macht sich derzeit auch niemand von uns strafbar.« »Mal abgesehen von dem Hausfriedensbruch und der Folter, zu der Sie mich angestiftet haben.« »Du hast Traunstein gefoltert?« Frank keuchte ungläubig. Ich ging nicht auf seine Frage ein. »Sie haben ihn nur kurz berührt, Alina.« Sie zögerte nachdenklich. Dann drehte sie den Kopf zum Seitenfenster und schüttelte ihn langsam. »Nichts?«, fragte ich sie wie schon zuvor in der Villa, als sie resigniert die Hände von Traunsteins Schultern genommen hatte. »Sie haben wirklich gar nichts gespürt?« »Nein.«
»Keine Bilder? Kein Licht?«
Ich fragte mich, ob ich tatsächlich ernsthaft mit der Möglichkeit gerechnet hatte, eine Blinde könne mir eine andere Antwort auf meine Frage geben.
»Ich habe ihn nicht erkannt«, sagte sie.
»Hey, hallo? Jemand zu Hause?« Frank wechselte die Spur und sah mich kurz an. »Kann mich mal jemand aufklären, was hier abgeht?«
»Aber Sie können auch nicht mit Sicherheit sagen, dass er es nicht war?«, fragte ich weiter.
»Ich kann niemanden als Täter ausschließen«, fauchte sie wütend zurück. »Können Sie jetzt bitte endlich mit Ihrer bescheuerten Fragerei aufhören? Ich meine, erst rufen Sie mich
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