Der Augensammler
gesamten Körper erfasste.
Okay. So kommen wir nicht weiter. Zeit für Plan B. Ich wandte mich an Alina. »Sie müssen mir einen Gefallen tun«, flüsterte ich so leise, dass Traunstein mich nicht hören konnte. Ich stand dicht bei ihr und roch wieder ihr angenehmes Parfum. Alinas Nackenhärchen richteten sich auf, als mein warmer Atem ihr Ohr traf. Ich bemerkte den Ansatz einer Tätowierung am Hals, die unter dem verrutschten Rollkragen ihres Pullovers hervorblitzte.
Als hätte sie meinen Blick gespürt, zog sie den Kragen nach, bevor ich die Bedeutung der geschwungenen Schriftzeichen entziffern konnte. Für mich hatte es wie Hate, Hass, ausgesehen.
»Was für einen Gefallen?«, fragte sie.
Ich nahm ihre Hände in meine und führte sie langsam um den Stuhl herum, bis sie direkt hinter Traunstein stand. »Sie haben gesagt, Sie hätten mit seinen Schultern begonnen.«
»Was soll das?«, fragte Traunstein und riss den Kopf in den Nacken, um sehen zu können, was hinter ihm vor sich ging. »Ja«, bestätigte Alina. »Aber ...« »Verdammte Scheiße, mit wem reden Sie da eigentlich die ganze Zeit?«, fragte Traunstein und rüttelte an seinen Fesseln. Offenbar hatte er Alina bis eben noch gar nicht wahrgenommen.
»Dann machen Sie es noch einmal«, sagte ich zu ihr. Beweisen Sie mir, dass Sie die Wahrheit sagen. Schauen Sie noch einmal in die Vergangenheit des Augensammlers. Ich führte ihre Hände zu Traunsteins Schultern. »Berühren Sie ihn. Und sagen Sie mir, was Sie sehen.«
55. Kapitel
(Noch 8 Stunden und 55 Minuten bis zum Ablauf des Ultimatums)
Philipp Stoya (Leiter der Mordkommission)
Der Augensammler wählt Kinder aus, die von ihren Vätern abgelehnt werden. Weil diese Kinder ebenso wie die Zyklopen in der griechischen Mythologie das Produkt einer verbotenen Beziehung sind.
Stoya wiederholte in Gedanken die letzten Worte des Professors und teilte langsam Scholles Antipathie gegenüber dem besserwisserischen Mann, der mit Absicht so sprach, dass seine Aussagen Nachfragen provozierten, die sein Publikum als unwissend entlarvten.
»Wie darf man das verstehen?«, tat Stoya ihm schließlich den Gefallen.
»Uranos war der Sohn von Gaja.«
»Moment mal, die alte Mutter Erde hat mit ihrem eigenen Jungen gepimpert?« Scholle lachte hysterisch auf. »Den sie durch unbefleckte Empfängnis zur Welt gebracht hatte. Ja, die Griechen waren damals nicht so empfindlich. Zeus zum Beispiel war auch mal mit seiner Schwester intim. Heutzutage wäre so etwas natürlich verpönt.« Stoya schüttelte nachdenklich den Kopf. »Wir haben die Hintergründe der Opferfamilien überprüft. Da gab es keine Anzeichen von Inzest.«
Hohlfort hob den Zeigefinger. »Wenn ich von einer verbotenen Beziehung spreche, dann meinte ich das nicht in einem juristischen Sinne. Es kommt nur auf den Blickwinkel des Augensammlers an, für den bereits ein Seitensprung ausreichend sein kann.« »Sie meinen .«
». dass die entführten Kinder vermutlich nicht die leiblichen Nachkommen des Vaters sind, ja.« Der Profiler griff seitlich zu der Chromleiste über den Rädern seines Rollstuhls und begann sanft nach vorne und hinten zu rollen. »Deshalb sind sie ihm verhasst. Deshalb wird die Mutter getötet, die den Mann so schändlich betrogen hat.« Elektrisiert von dem, was der Professor gerade andeutete, stand Stoya auf und griff sich nervös in den Nacken. »Das macht unseren Augensammler zum Rächer!« »Exakt!« Hohlfort rollte weiter vor und zurück und wirkte dabei wie ein vergnügtes Kind. »Der Mörder bestraft die Mutter für ihre Untreue und spielt die Rolle des Uranos, indem er die verhassten Kuckuckskinder tief im Innersten der Erde versteckt. Das gibt uns übrigens auch einen weiteren Anhaltspunkt für die Suche: Er wird seine Opfer in einem Bunker, einem Kellerloch gefangen halten. Auf keinen Fall zu ebener Erde oder darüber.« »Oh, vielen Dank. Das schränkt die Suche ja dramatisch ein«, schaltete sich Scholle ein, der nun ebenfalls aufgestanden war. Sein Bauch wölbte sich so über den Hosenbund, dass man nicht sehen konnte, ob er einen Gürtel trug. »Sie können Ihre Zeit hier mit sarkastischen Bemerkungen verplempern. Oder Sie überprüfen den Hintergrund der Familien auf vertuschte Affären und Seitensprünge. Vielleicht haben all diese Frauen ein Stelldichein mit dem Augensammler selbst gehabt, aus dem ein Kind hervorging, das dem Serienmörder jetzt ebenso verhasst ist wie einst dem Uranos seine Zyklopen.«
»Und
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