Der Augensammler
Bewusstsein dessen, was alles noch passieren sollte, muss ich über meine hilflosen Gedanken zu diesem Zeitpunkt geradezu lachen.
Allerdings ist es ein ersticktes, rasselndes Lachen, wie bei einem Menschen, der kurz davor steht, Blut zu spucken. Ich muss lachen, weil ich damals allen Ernstes dachte, ich hätte mein Schicksal selbst in der Hand; könnte durch meine lächerlichen Fahranweisungen die Route unserer Fahrt bestimmen, die uns letzten Endes nicht zu Alinas Wohnung in den Prenzlberg brachte, sondern direkt in den Tod.
Ich war zwar angeschlagen und verwirrt, dachte aber, ich hätte das Steuer noch fest in der Hand. Dabei hatte es der Augensammler schon längst übernommen. Es sollte nur noch wenige Stunden dauern, bis ich es unter grässlichen Qualen herausfand.
52. Kapitel
(Noch 8 Stunden und 32 Minuten bis zum Ablauf des Ultimatums)
Den Rest des Weges löcherte Frank abwechselnd Alina und mich mit unzähligen Fragen, was schließlich dazu führte, dass ich mich dazu hinreißen ließ, ihm einen kurzen Abriss über die Ereignisse der letzten Stunden zu geben. Angefangen mit dem Zusammentreffen auf meinem Hausboot (wobei ich die genaue Lage meines Verstecks ebenso verschwieg wie meinen vorangegangenen Termin bei Dr. Roth), erzählte ich ihm von den zusätzlichen sieben Minuten des Ultimatums und unserem erfolglosen Einbruch bei Thomas Traunstein.
Seine Reaktion auf Alinas phantastische Zeugenaussage fiel sehr viel weniger skeptisch aus als meine. »Du glaubst ihr?«, fragte ich verunsichert. Nachdem sich all ihre Angaben, mit Ausnahme des Ultimatums, in Luft aufgelöst hatten, wollte ich jetzt eigentlich nur noch mein Versprechen einlösen und Alina so schnell wie möglich nach Hause bringen. Mein Bedarf an unerklärlichen Phänomenen war fürs Erste gedeckt, und ich hatte keinerlei Lust, weiteren Hirngespinsten hinterherzujagen. »Der Einsatz eines Mediums zur Lösung eines Falles hat eine lange Tradition«, sagte Frank und drückte sich damit um eine Antwort. Wir hatten die Brunnenstraße erreicht und hielten in zweiter Spur auf der Höhe des Volksparks am Weinberg.
»Schon 1919 hat der Chef der Leipziger Kriminalpolizei, Kriminalrat Engelbrecht, ein paranormales Experiment mit
einem telepathisch veranlagten Menschen zur Aufklärung eines fingierten Verbrechens durchgeführt«, dozierte er weiter. Wir parkten in einer Einfahrt zwischen zwei hell erleuchteten, aber menschenleeren Galerien. In der einen hing ein Fahrrad ohne Sattel über einer flackernden Glühbirne, in der anderen stand ein pink angemalter Röhrenfernseher, der ein verschneites Testbild zeigte. Die Kunst, wenn es denn welche sein sollte, ließ mich noch ratloser zurück als Franks Geschwafel.
»Und in Wien gab es um 1921 sogar ein Institut für kriminaltelepathische Forschung, wenn auch nur für wenige Monate.«
»Woher weiß er das alles?«, fragte Alina. »Ihm fehlt ein eingebauter Spam-Filter im Kopf«, erklärte ich. »Er erinnert sich an alles, was er liest. Erspart mir den Notizblock, wenn ich ihn mit auf Recherche nehme.« Ich streckte mich auf meinem Vordersitz, mittlerweile wollte ich Frank und Alina schnellstmöglich loswerden, damit ich mich auf dem eiligsten Weg nach Rudow machen konnte. Zu Nicci.
Ich sah auf die Uhr am Armaturenbrett. Und zu Julian.
Noch zwei Stunden bis Mitternacht. Noch zwei Stunden bis zu dem Geburtstag meines Sohnes. Auch wenn ich noch kein Geschenk besorgt hatte, wollte ich Julian wenigstens gratulieren, bevor ich mich Stoya zum Fraß vorwarf.
»Der erste Fall, der in Deutschland Wellen schlug, war um 1921 der der Frankfurter >Wahlträumerin< Minna Schmidt.« Franks Redefluss war ungebrochen, und in Alina schien er eine interessierte Zuhörerin gefunden zu haben. Denn obwohl TomTom ihr ständig mit der Schnauze gegen die Hände stupste, machte sie keine Anstalten, das Auto zu verlassen.
»Sie träumte nach dem Doppelmord an zwei Bürgermeistern in Heidelberg von dem exakten Fundort der Leichen.«
»Zufall.« Ich gähnte.
»Möglich. Aber im Freiburger Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene, kurz IGPP, stapeln sich die Akten über Fälle, in denen Hellseher der Polizei geholfen haben. Einer davon dürfte auch dir bekannt sein.« Er sah mich an, wieder zeichneten sich rote Flecke auf seiner Wange ab. »Es ist der Fall des ermordeten Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer.« »Und?«
»Erinnerst du dich an die Schlagzeile 1977 in der Bunten?« »Danke, so alt bin ich
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