Der Augensammler
überprüfen. Wann war der Kerl gestern bei dir in Behandlung?« Der Augensammler. »Kurz nach drei.«
»Und wann bist du den Typen wieder losgeworden?« »Nur wenige Minuten später.« »Er ist einfach so gegangen?«
»Ja, das hat mich auch gewundert. Der muss garantiert was gemerkt haben. Mann, hatte ich die Hosen voll, als die Vision plötzlich abriss. Ich erzählte etwas von einer Migräneattacke und bat ihn zu gehen, was er sofort tat. Ziemlich komisch, oder? Er wollte noch nicht einmal sein Geld zurück.«
Ich stellte den Timer der Festplatte auf 15.10 Uhr, in der Hoffnung, weder zu weit nach vorne gesprungen zu sein noch zu viel Zeit mit unnützen Aufnahmen zu verplempern.
15.10 Uhr?, überlegte ich. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich es mir in der Parkgarage des Zeitungsverlags auf dem Rücksitz meines Volvos bequem gemacht. Eigentlich hätte es nur ein kurzes Nickerchen werden sollen, doch der Schlafentzug der letzten Tage war zu groß gewesen, und ich pennte bis zur 17-Uhr- Konferenz.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis ich die entscheidende Stelle gefunden hatte. Der Rekorder nahm zum Glück nicht die Leerlaufzeiten auf, sondern nur das, was die Kamera wirklich einfing. Ich verstand zwar immer noch nicht, was diese Installation mit Kunst zu tun hatte, nahm mir aber in Gedanken vor, der Galerie den Schaden zu ersetzen, sobald ich dazu wieder in der Lage war. Falls ich dazu jemals wieder in der Lage sein sollte. Ungläubig starrte ich auf das Bild vor meinen Augen und vergaß zu blinzeln. Erst als Alina mich ansprach, merkte ich, dass ich eine geraume Zeit wie ausgestopft vor dem Fernseher gesessen haben musste. »Und?«, fragte sie. »Was siehst du?« Scheiße. Das darf nicht wahr sein.
Mein Mund wurde trocken, während ich nach einer plausiblen Antwort suchte. »Erkennst du was?«
»Ja«, krächzte ich, dabei hatte ich die Wahrheit gar nicht verraten wollen. »Nein ... Ich meine ... Ich weiß nicht«, stotterte ich hilflos, und das war gelogen. Natürlich erkannte ich etwas. Aber was es war, konnte ich Alina in diesem Moment unmöglich sagen. Zum ersten Mal war ich dankbar für ihre Blindheit. Denn dadurch konnte sie nicht sehen, dass der Kerl mit dem grünen Parka und den ausgelatschten Timberland-Stiefeln, dessen Bild der Festplattenrekorder gerade auf den Fernseher warf, eine große Ähnlichkeit mit einem Menschen besaß, den ich kannte. Den ich sehr gut kannte. Denn der Mann war ich selbst.
47. Kapitel
Es dauerte eine Weile, bis ich mich gefangen hatte. Bis ich nicht mehr das Blut in den Adern rauschen hörte und das Gefühl in den Fingern zurückgekehrt war. »Ich kann sein Gesicht nicht erkennen«, sagte ich, was der Wahrheit entsprach. Der Mann, der meinen leicht nach vorne gebeugten Gang und meinen Klamottenstil imitierte, hatte sich die Kapuze seines Parkas über den Kopf gezogen.
Etwas, was ich niemals tun würde. Selbst bei Regen nicht! Ich versuchte, einen anderen Bildausschnitt zu erhalten, indem ich das Standbild weiter nach vorne und wieder zurück springen ließ, aber die Perspektive wurde nicht besser. Es war völlig unmöglich zu sagen, ob der Mann meine Größe und Statur hatte, dafür war er zu weit vom Schaufenster entfernt.
Aber er trägt meine Jacke. Meine Jeans. Meine Schuhe. Eine Faust ballte sich in meinem Magen zusammen. Der Anblick der schemenhaften Gestalt auf dem Bildschirm hatte ein beunruhigendes Dejavu ausgelöst. »Keine Ahnung, wer das ist«, sagte ich und fühlte mich, als schwöre ich einen Meineid.
»Aber es beweist, dass er da war«, sagte Alina. Entweder ihr war doch kühl geworden, oder sie hatte aus einem anderen Grund ihre Meinung geändert. Jedenfalls stand sie jetzt vor dem geöffneten Schrank und zog mit ruhigen, gleichmäßigen Bewegungen mehrere Kleidungsstücke heraus.
»Nein, es beweist lediglich, dass um diese Uhrzeit irgendjemand aus deinem Haus gegangen ist.« Ich ließ die Aufnahme weiter nach vorne laufen in der Hoffnung, dass der Mann einen Fehler machte und sich aus Versehen in die Kamera drehte. Das Gegenteil war der Fall. Wahrscheinlich, um zu verhindern, dass ihm der Schneeniesel ins Gesicht wehte, ging er mit vornübergebeugtem Kopf, den Blick starr nach unten gerichtet, weiter. Aber dann, kurz bevor der Unbekannte aus dem Blickwinkel der Kamera verschwand, passierte es. Der Zusammenprall.
Weil er weder nach rechts noch nach links blickte, hatte er den Koffer des Bettlers übersehen, der schräg im Gehweg stand. Der Kerl war offenbar
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