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Der Augensammler

Der Augensammler

Titel: Der Augensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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hineingetreten, denn plötzlich ergossen sich einige Münzen auf den Gehsteig, und ein hagerer, ausgezehrter junger Mann erschien wütend auf der Bildfläche.
    »Dein Patient hat Streit mit einem Penner«, erklärte ich Alina.
    »Dieser Penner, wie sieht er aus?«, fragte sie. »Mittelgroß. Schwarze, strähnige Haare, von denen aber nicht mehr allzu viele. Und er hält eine Gitarre in der Hand.«
    »Den kenne ich.«
    Ich drehte mich zu ihr. »Wer ist das?« »Ein Straßenmusiker. Spielt hier jeden zweiten Tag. Ich gebe ihm immer was, obwohl ich noch nie jemanden so schräg habe singen hören.«
    »Hast du einen Drucker?«, fragte ich und ärgerte mich im nächsten Augenblick über meine dämliche Frage. »Nee. Und eine PlayStation fehlt mir auch noch in meiner Sammlung.«
    Wir mussten beide lächeln. Wenigstens nahm Alina es mit Humor. Ich zog mein Handy aus der Jackentasche, steckte hastig den Akku wieder rein, ließ das Telefon aber im Flugmodus, damit es sich nicht in ein Netz einloggen konnte und Stoya somit meine Position verriet. Wenn sie die nicht schon längst hatten. Dann fotografierte ich den Bildschirm ab. Nach drei Versuchen hatte ich ein einigermaßen brauchbares und flimmerfreies Foto von dem Straßenmusiker und eins von dem unbekannten Doppelgänger.
    »Bist du so weit?«, hörte ich Alina hinter mir fragen. Als ich mich umdrehte, war sie wieder vollständig angezogen. Sie trug eine mit Lederflicken bestickte Jeans und ein rotbraun kariertes Holzfällerhemd, das sie sich vor dem Bauch zusammengebunden hatte. Passend zu dem neuen Look steckten die Füße in zerschlissenen Cowboystiefeln, deren Hacken bereits abgelaufen waren und die eine Nummer zu groß wirkten.
    »O nein. Ich zieh dich da nicht noch weiter rein«, sagte ich, immer noch etwas verwirrt von ihrer optischen Verwandlung. Aus dem linken Szene-Mädchen war ein burschikoses Country-Girl geworden.
    »Quatsch keinen Scheiß. Glaubst du, ich bleib hier alleine?«
    Mit sicheren Bewegungen steuerte sie so schnell aus dem Schlafzimmer wieder den langen Gang hinunter zur Wohnungstür, dass ich Mühe hatte, sie einzuholen. »Komm her, TomTom, wir müssen noch mal los«, rief sie, als sie an der Garderobe angekommen war. Ohne auf meine Einwände einzugehen, öffnete sie die Kommode und tastete flink über mehrere Perücken. Schnell entschied sie sich für eine blonde Kurzhaarperücke mit gestuftem Pony.
    Dann, nachdem sie TomTom mit wenigen geübten Griffen wieder sein Geschirr angelegt hatte, schnappte sie sich eine fellgefütterte Cordjacke, ging zur Wohnungstür und öffnete sie. Da sie bei all ihren Handlungen ununterbrochen die Augen geschlossen hielt, sah sie dabei aus wie eine Schlafwandlerin.
    »Das ist doch Wahnsinn«, sagte ich mehr zu mir als zu ihr. »Mag sein.« Sie zog sich die Jacke an und schlug den Kragen hoch. »Aber wenn wir hier noch länger rumstehen, wird die Polizei kommen.« Mit TomTom an der festen Leine trat sie in den Hausflur, und der Bewegungsmelder aktivierte die grellen Deckenfluter. »Und dann kann ich dich leider nicht mehr zu dem Straßenmusiker bringen, den du eben gesehen hast.«

46. Kapitel
    (Noch 7 Stunden und 31 Minuten bis zum Ablauf des Ultimatums)
Alexander Zorbach (Ich)
    Irgendein schwachsinniger PR-Berater muss Paris Hilton einmal eingeredet haben, sie müsse auf Fotos immer seitlich verdreht zur Kamera stehen, das Kinn nach unten Richtung Brust strecken und dabei mit künstlich kokettem Augenaufschlag schräg in die Kamera grinsen. Der Barkeeper, dessen misstrauische Blicke an uns hafteten, seitdem wir seine menschenleere Kneipe betreten hatten, stand in ähnlicher Pose hinter dem Tresen: den rechten Arm abgestützt, mit dem Oberkörper parallel zur Theke, den Kopf um neunzig Grad verdreht. Er trug eine rahmenlose Lesebrille, die ihm bis auf die Nasenflügel gerutscht war, was den Eindruck, er würde auf uns herabsehen, nur noch verstärkte.
    »Hallo Paris«, sagte ich zur Begrüßung und merkte selbst, dass ich schon einmal bessere Scherze zur Auflockerung gerissen hatte. Er verzog keine Miene, und ich bezweifelte, dass er die Hotelerbin überhaupt kannte. Alina, die sich in dem schummrigen Schuppen offenbar auskannte, tastete nach einem Hocker und setzte sich. Ich wollte das Eis brechen, indem ich erst mal für etwas Umsatz sorgte, doch bevor ich etwas bestellen konnte, öffnete der Barkeeper schon den Mund: »Ich sag Ihnen, wer Schuld hat, dass die Welt vor die Hunde geht.« Okay, diese Begrüßung ist

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