Der Augensammler
zeigt weder Vater noch Mutter, also kann es sich nur um ein Kind handeln. Junge oder Mädchen. Der Schatten auf dem Foto ist unmöglich zu identifizieren. Sie kann nur die Augen erkennen. Besser gesagt das eine Auge. Das andere ist verdeckt. Oder gar nicht vorhanden.
Sie dreht sich um, sieht zur offenen Tür, und die Alarmsirene wird lauter. Gleichzeitig verdunkelt sich die Welt um sie herum ...
Und aus den Blitzen werden wieder schwarze Flecken. Aus den Bildern wird ein allumfassendes Schwarz . ... in dem Alina wieder erwacht. Geweckt von der Alarmanlage der Galerie, sechs Stockwerke unter ihr. Und von dem wütenden Hämmern an ihrer Wohnungstür.
48. Kapitel
(Noch 8 Stunden und 17 Minuten bis zum Ablauf des Ultimatums)
Alexander Zorbach (Ich)
Als sie mir endlich öffnete, war es die buchstäblich letzte Sekunde. Nur einen kurzen Augenblick später wäre mir das klobige Ding aus den blutigen Händen gerutscht. Ich hatte die Treppe genommen und mich sowohl mit meiner Kondition als auch mit dem Gewicht des Apparats verschätzt, den ich aus der Galerie geklaut hatte. Alina zitterte am ganzen Körper, als sie mich wortlos eintreten ließ.
»Was ist passiert?«, fragte sie monoton, nachdem ich den Festplattenrekorder abgesetzt hatte. Eine Frage, die ich ihr ebenso gut hätte stellen können.
Es war schon auffällig genug, dass sie mir splitterfasernackt gegenüberstand und keine Anstalten machte, sich zu bedecken. Zudem hatte sie auf einmal keine Haare mehr, was aber die Perücke auf der Kommode neben der Tür erklärte. Weitaus verstörender empfand ich die Angst, die mir aus jeder Faser ihres Körpers entgegensprang. Ihr Atem ging schnell, und die Hände zitterten unkontrolliert an den schlaff herabhängenden Armen. Hatte sie vorhin noch so viel Wert auf ihre Mimik gelegt, glich das Gesicht jetzt einer starren Maske. Sie hatte geweint, dicke, lidschattenverschmierte Tränen waren ihr die Wange herabgelaufen, was den puppenartigen Ausdruck noch verstärkte. Ich wollte sie instinktiv in den Arm nehmen, doch Alina wich einen Schritt zurück.
»Fass mich nicht an«, flüsterte sie leise und hob abwehrend beide Hände.
»Was hast du denn?«
Erst sehr viel später registrierte ich, dass wir in diesem Moment zum Du übergegangen waren. »Er war hier.« »Wer?«
»Na wer wohl«, brüllte sie mich an, und fast war ich froh, dass sie zu einem derartigen Ausbruch fähig war. Gleißende Wut war immer besser als finstere Angst. »Der Scheißkerl hatte das Messer dabei. Das Messer, mit dem er ...« Sie sprach nicht weiter, und das war auch nicht nötig. Ich ließ meinen Blick über den nackten Körper wandern, um zu überprüfen, ob der Augensammler sie irgendwo verletzt hatte, doch alles, was ich sah, war der etwas zu dünne, aber dennoch weiblich geformte Körper einer jungen Frau, die ich unter anderen Umständen gewiss attraktiv gefunden hätte. Falsch - die ich sogar unter diesen Umständen attraktiv fand. Ein Gedanke, den ich sofort wieder verdrängte.
»Wo ist er?«, fragte ich und wollte den Gang hinunter, um die Zimmer zu kontrollieren. Draußen erstarb endlich die verdammte Alarmanlage.
»Spar dir die Mühe«, sagte Alina hinter mir. »Er ist weg.« Sie verschränkte die Arme vor den Brüsten, wobei sie mit einer Hand ihre merkwürdige Tätowierung am Hals abdeckte, die im Halbdunkel des Flurs wie ein großes Muttermal gewirkt hatte. »Woher willst du das wissen?«
»Weil TomTom nicht mehr reagiert.« Ich sah den Gang hinunter bis zu einem Punkt, an dem ich das Badezimmer vermutete, in dem laut Wasser rauschte. Der Hund lag in einer sphinxähnlichen Haltung davor und klopfte zur Begrüßung mit dem Schwanz auf das Parkett. »Er wittert keine Gefahr mehr. Außerdem steht die Balkontür offen, ich denke, der Kerl ist über die Feuerleiter wieder runter.«
Ich näherte mich der Badezimmertür, durch die Schwaden von heißem Wasserdampf auf den Flur waberten, und spähte in den Nebel hinein. Nichts.
Bis auf eine fast überlaufende alte Emaillebadewanne war nichts Außergewöhnliches zu sehen.
Ich drehte den Hahn zu und verbrannte mir die Hand bei dem Versuch, den Stöpsel zu ziehen. Beim Herausgehen sah ich Schminkutensilien vor dem grell erleuchteten Spiegelschrank stehen, doch jetzt war nicht die Zeit, um mich darüber zu wundern. »Was wollte er?«, fragte ich. »Uns zum Aufhören überreden.«
Sie gab mir eine kurze Zusammenfassung dessen, was sie vor wenigen Minuten so unter Schock gesetzt hatte. »Er
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