Der Augensammler
jetzt aber auch nicht besser als meine, dachte ich, hielt aber die Klappe. Aus Erfahrung wusste ich, dass man einen Wirt nicht unterbrach, wenn man eine Information von ihm wollte, mochte sein Geschwafel auch noch so hirnrissig sein. »Die Mode«, klärte er uns auf und nickte bedeutungsschwer. Dabei wanderte sein glasiger Blick zu Alinas Cowboyhosen. »Es ist die gottverdammte Mode, die uns ruiniert.«
»Aha«, sagte ich pflichtschuldigst in eine längere Pause hinein, doch wie befürchtet war der Mann noch längst nicht am Ende mit seinem Vortrag.
»Was heißt es denn, wenn Dinge aus der Mode kommen? Doch nichts anderes, als dass wir das, was noch funktioniert, wegschmeißen, nur weil es einen kleinen Kratzer hat.«
Er schlug mit der flachen Hand auf die Theke. »Dieser Tresen hier ist sechzig Jahre alt. Hat 'ne Menge abbekommen. Gläser, Flaschen, sogar mal ein Schädel ist an dem zu Bruch gegangen.«
Er lachte selbstvergessen. »Mann, auf ihm wurde gesoffen, getanzt, geprügelt, geschlafen und gevögelt.« Ich sah aus den Augenwinkeln heraus, wie Alina leise lächelte.
»Ist sicher nicht der schönste Tresen Berlins. Aber völlig in Ordnung. Hält noch weitere sechzig Jahre aus. Genauso wie der Rest der Einrichtung.«
Er machte eine ausladende Handbewegung, die man aus Filmen kennt, wenn der Vater dem Sohn sagt: »Und das alles wird einmal dir gehören.« Wobei »alles« in diesem Fall eine Ansammlung dreckiger Vorhänge, mehrere ockerfarbene Holzmöbel mit abgewetzten Polstern, einen altersschwachen Flipper und Spirituosen im Wert von wohl nicht mal zweitausend Euro umfasste.
»Nichts hier drinnen ist kaputt. Wieso also sollte ich renovieren?«
Vielleicht, weil du dann nicht der einzige Gast um diese Uhrzeit wärst?, dachte ich, verstand aber, worauf er hinauswollte.
»Loungemöbel, hat mir so ein schwindsüchtiger Innenarchitekt geraten. Clubsofas, auf denen man chillen kann. Das wär jetzt der Trend.«
Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal einen so angewiderten Gesichtsausdruck gesehen hatte.
»Was zum Teufel soll daran gut sein, wenn dir jemand beim Trinken die Füße ins Gesicht streckt?« Ich versuchte beim Achselzucken so unauffällig wie möglich auf meine Armbanduhr zu schauen. Die Kneipe befand sich zwei Querstraßen von der Galerie entfernt. »Wir vernichten unsere Rohstoffe, wir saugen unseren Planeten aus wie ein Parasit seinen Wirt, werfen Tag für Tag Dinge weg, die noch tadellos in Ordnung sind. Allein mein bekloppter Neffe hat im letzten Jahr drei Handys verbraucht. Und wer ist schuld daran?«
»Die Mode«, sagte ich, dankbar für den Ball, den er mir zugeworfen hatte. Jetzt lag ich mit ihm auf einer Wellenlänge, was im Grunde genommen sogar stimmte. Ich hatte schon schwachsinnigeren Kneipenphilosophen zugehört. »Okay, was wollt ihr?«, fragte er und schenkte uns ein erstes, nikotinverfärbtes Lächeln.
»Zwei Gin Tonic«, sagte ich. »Und wir würden gerne mit diesem Kerl hier sprechen.«
Der Barkeeper sah erstaunt auf mein Handy, das ich über die Theke streckte. Dann schob er seine Lesebrille zurecht.
»Ist schon über vier Jahre alt«, log ich und erstickte damit jeden seiner Einwände im Keim.
»Und macht immer noch tadellose Fotos«, nickte er anerkennend.
Ich lächelte. »Erkennen Sie den Mann?« »Linus? Natürlich.«
Linus? Ich drehte mich kurz zu Alina, froh darüber, ihrem Hinweis gefolgt zu sein. »Wissen Sie, wo ich ihn finde?«
Der alte Wirt lächelte noch breiter. »Da drinnen.«
Er deutete mit dem Kopf zu einer Tür in der äußersten Ecke der schummrigen Kneipe. Zu einer Tür, über der sich zwei Billardqueues kreuzten.
»Was dagegen, wenn ich mal mit ihm rede?«
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Aber ich fürchte,
dafür kommen Sie zu spät.«
»Zu spät?« Ich sah den Barkeeper fragend an, dessen Lächeln verschwunden war.
»Na los schon, gehen Sie rein. Aber sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.«
45. Kapitel
(Noch 7 Stunden und 26 Minuten bis zum Ablauf des Ultimatums)
Tobias Traunstein (9 Jahre)
Einmal hatten sie gewettet, wer länger unter Wasser bleiben könne. Direkt nach dem Schulschwimmen im Krummebad - sie hätten eigentlich schon beim Duschen sein müssen - hatte Kevin sein komplettes Panini-Heft zur WM als Einsatz gesetzt.
Tobias schluckte trocken, dann sog er gierig die immer dünner werdende Luft aus der Dunkelheit um ihn herum. Er musste an einen Strohhalm denken, mit dem man einen dicken
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