Der Augensammler
Alina unnötigerweise. Man musste nicht über eine animalische Spürnase verfügen, um zu ahnen, dass hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
Nein, du irrst dich. Hier kann nichts sein. Wir folgen nur den Halluzinationen einer blinden Esoterikerin. Ich zog die Tür auf.
Natürlich kannte ich die Geschichten von den Idioten, die barfuß in den Keller zum Axtmörder gestiegen waren, anstatt auf den Rat des Kinopublikums zu hören, besser die Flucht zu ergreifen. Und daher war es für mich völlig ausgeschlossen, auch nur einen Fuß auf die Steintreppe zu setzen. Auch wenn ich schon rein beruflich von Neugierde getrieben war. Auch wenn es möglich war, dass sich nur wenige Meter unter uns das Versteck des Augensammlers befand, in dem Lea und Tobias verzweifelt auf uns warteten.
TomToms Instinkte waren vernünftig. Wir durften uns nicht in Gefahr begeben. Das war mir völlig klar. Zumindest in den ersten Sekunden. Nur so lange, bis ich dieses entsetzliche, unmenschlich entstellte Röcheln hörte, das nur von einer Kreatur stammen konnte, die jetzt, sofort, und nicht erst in einer halben Stunde, meine Hilfe brauchte. »Scheiße, was ist das?«, fragte Alina und klang noch eine Spur ängstlicher.
Da unten stirbt jemand, dachte ich und klappte mein Handy auf. Ich tippte eine SMS an Stoya, wo er mich finden konnte.
Es geschah, kurz nachdem ich auf Absenden gedrückt und etwa die Mitte der Treppe erreicht hatte. Ein Bewegungsmelder aktivierte eine Deckenlampe. Ausgerechnet hier, im Keller, direkt unter dem Wohnzimmer, war es mit einem Schlag hell wie der Tag. Leider.
Als das brennende Flimmern in meinen Augen nachgelassen hatte, sah ich hinab in den kleinen Raum mit den grob behauenen Wänden, der wegen seiner Wölbung an einen Weinkeller erinnerte, und begann zu zittern. Wie sehr wünschte ich mir die Dunkelheit zurück, aus der ich gekommen war.
Was hätte ich gegeben, wäre mir dieser Anblick erspart geblieben.
37. Kapitel
Wenn Licht durch unsere Hornhaut dringt, durch die Pupille fällt und schließlich auf die empfindlichen Photorezeptoren der Netzhaut trifft, entsteht dort ein Bild, zumindest auf einem sehr kleinen Teil dieser Haut, dem gelben Fleck, der Macula lutea. Streng genommen wird nicht nur ein einziges Bild erzeugt, denn unsere Augenmuskeln sorgen dafür, dass das Auge beim Betrachten niemals ruhig verharrt, sondern in Sekundenbruchteilen das Objekt abtastet, bis sich aus unzähligen Ausschnitten ein Gesamtbild zusammenfügt. So entsteht eine Flut von Nervenreizen, die unser Gehirn zu Bildmustern verarbeitet, indem es das Gesehene mit dem vergleicht, was wir bereits kennen. Streng genommen ist das Auge nur das verlängerte Werkzeug unseres eigentlichen visuellen Sinnesorgans -des Gehirns, das uns niemals die Wirklichkeit betrachten lässt, sondern immer nur eine Interpretation derselben. Für den Anblick aber, der sich mir hier in dem Keller des Bungalows mit aller Gewalt in den Schädel hämmerte, gab es kein Vorbild. Mein Gehirn hatte keine Erinnerung an etwas Vergleichbares, mit dem es dieses Schreckensbild hätte abgleichen können. So etwas Grauenhaftes hatte ich niemals zuvor gesehen.
Die Frau wirkte wie ein Exponat aus einer Anatomiesammlung, mit dem einzigen Unterschied, dass ihr großflächig sezierter Körper noch lebte. Zunächst dachte ich, das zischende Beatmungsgerät neben der Pritsche wäre allein dafür verantwortlich, dass sich ihr aufgeplatzter Oberkörper noch hob und senkte. Aber leider (Gott vergib mir, ich wünschte mir so sehr, sie wäre tot) öffnete sie den Mund unter der Maske mit dem Intubationsschlauch und röchelte. Zudem rollte sie mit den Augen, als ich mir die Hand vor den Mund schlug.
Das darf nicht wahr sein. Das ist nicht real. Das ist nichts als eine optische Täuschung. Wir folgen doch nur den Halluzinationen einer Blinden .
Ich blinzelte, doch damit konnte ich die entsetzlichen Bilder nicht wegwischen. Weder die Pritsche noch das Beatmungsgerät noch ...
... das Telefon? Was zum Teufel hat ein Telefon auf dem Kliniknachttisch neben der sterbenden Frau zu suchen? Das Geschlecht des Opfers erkannte ich nur an den langen Haaren und den Brüsten, deren Warzen bereits weggefault waren. Sie war nicht das entführte Mädchen, denn ihr Wuchs entsprach nicht dem einer Neunjährigen. Ansonsten aber war ihr Alter unmöglich zu erkennen, zumal ihr alle Zähne fehlten und auch einige Finger und Fußzehen. »Was ist hier unten los?«, durchbrach Alina meine
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