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Der Augensammler

Der Augensammler

Titel: Der Augensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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zwei Teile schrauben konnte, hatte er seinen Opa gefragt, ob das nicht eher was für Lea sei.
    Ach, Lea. Warum bist du jetzt nicht bei mir? Und was soll ich mit so einem beschissenen Schraubenzieher machen, dem die Spitze fehlt?
    »Du musst die Puppen befreien!«, hörte er die brüchige Stimme seines Großvaters in seinem Kopf, und dann fiel ihm wieder ein, wie der das blöde Geschenk genannt hatte. Opa hatte irgendwas von Russland erzählt und Babuschka und dass das einfach der Hit irgendwo da im Osten wäre, weil man jede einzelne Puppe aufschrauben und immer weitere, neue Babuschkas rausziehen konnte. O Gott, ich stecke jetzt auch in so einer bunt angemalten Babuschka-Puppe.
    Jedes Versteck, aus dem er sich befreite, würde in ein weiteres führen. Erst ein Koffer, dann eine Holzkiste. Und was kommt als Nächstes?
    Wahrscheinlich ein noch größerer Sarg, in dem es wieder dunkel wäre. Und in dem er schon wieder keine Luft bekommen würde.
    Tobias hustete und hatte das Gefühl, das Gleichgewicht zu verlieren, als er in die Hocke ging. Mit der größeren Kiste hier hatte er sich nur etwas Zeit erkauft. Und etwas Luft. Aber die wurde auch wieder knapp. Schon der Koffer war mit Plastikfolie umwickelt gewesen, die er kaum hatte zerreißen können. Und jetzt, nach nur wenigen Atemzügen, lag erneut dieser Druck auf seinem Brustkorb. Gleichzeitig sah er Sterne, obwohl nach wie vor kein Lichtstrahl den Weg durch diese Finsternis fand. Tobias fragte sich kurz, ob er sich wirklich verausgaben und damit noch schneller die Luft hier drinnen verbrauchen sollte. Doch dann beschloss er, dass ihm keine Wahl blieb.
    Mit der Wut der Verzweiflung stieß er den kaputten Schraubenzieher mit der abgefeilten Spitze immer wieder gegen die gleiche Stelle in der Holzwand.

38. Kapitel
    (Noch 6 Stunden und 18 Minuten bis zum Ablauf des Ultimatums)
Alexander Zorbach (Ich)
    Im Alter von neun Jahren, als ich groß genug war, alleine mit den öffentlichen Verkehrsmitteln meinen Weg durch Berlin zu finden, hatten sie mir die Aufgabe übertragen, jeden Sonntag meiner Oma das Mittagessen zu bringen. Oma kam nicht gerne zu uns, denn sie mochte meinen Vater nicht, der bezeichnenderweise ihr Sohn war, und auch mich konnte sie nur leiden, wenn ich ihre Lieblingsspeise im Gepäck hatte: Königsberger Klopse. Ich glaube, das Einzige, was sie an unserer Familie wirklich mochte, war der große Fernseher im Wohnzimmer, mit dem sie jedes Jahr zu Weihnachten »Der Kleine Lord« sehen wollte, um jedes Mal aufs Neue davor einzuschlafen. Wann immer ich an sie zurückdenke, erinnere ich mich an ihren offenen Mund und den Speichelfaden, der ihr das gewaltige Kinn hinabrann, während der Abspann lief. Ich bin mir nicht sicher, aber ich fürchte, Oma hat die Welt verlassen, ohne das Ende jemals gesehen zu haben, und wird ganz sicher noch im Jenseits über den alten Earl of Dorincourt schimpfen, dessen wundersame Läuterung sie regelmäßig verpasst hatte. Meine sonntäglichen Besuche dauerten nur ein halbes Jahr, bis sie in ihrer Küche ausrutschte und in ein Pflegeheim musste. Doch diese wenigen Treffen hatten genügt, um in mir die Gewissheit zu verankern, dass der Tod kein lebendiges Wesen ist; kein Sensenmann, wie man ihn aus Schauergeschichten kennt, sondern ein Geruch.
    Ein vielschichtiger, alles überlagernder und durchdringender Geruch, zusammengesetzt aus dem Duft eines billigen Toilettenreinigers, der die Exkrementreste im Bad ebenso unzureichend übertüncht wie das Pfefferminzbonbon den abgestandenen Atem eines alten Menschen mit schlecht sitzendem Gebiss. Wenn meine Oma mir die Tür öffnete, schlug mir dieses »Todesparfum« entgegen, wie ich es heimlich nannte. Schweiß, Urin, Eierlikör, aufgewärmtes Essen - alles vermengt mit dem süßsauren Mief fettiger Haare und kaltem Furz. Ich stellte es mir abgefüllt vor, in einem Flakon aus Knochen mit einem Totenschädel auf dem Etikett. Sollte es dieses Konzentrat tatsächlich geben, so dachte ich, während meine Augen sich langsam an das Zwielicht gewöhnten, dann hatte jemand hier in diesem Bungalow einen gewaltigen Vorrat davon ausgekippt. »Oh, oh«, stöhnte Alina. »Hier müsste dringend mal gelüftet werden.«
    »Hallo, ist hier jemand?«, fragte ich mindestens schon zum vierten Mal, ohne eine Antwort zu bekommen. Die Tatsache, dass die knallige Außenbeleuchtung wegen der undurchsichtigen Jalousien kaum ins Innere der Zimmer drang, erzeugte bei mir ein unangenehmes Gefühl der Beklemmung. Meine

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