Der Ausflug
wir jetzt in den Himmel hinauf
und brächten Veronica gleich wieder her.«
Wie egoistisch man doch in seinem Kummer wurde. Wie sehr man klammerte, wie abhängig man blieb. Hilflos, konnte manvielleicht auch sagen. Sie dachte: Vergib uns, Veronica, wir wussten nicht, was wir taten, ehrlich.
Leander trank einen Schluck Wasser, blickte erneut im Saal herum und sagte: »Darf ich den Ersten von Ihnen, der ein Anliegen hat, bitten, nach vorn zu kommen?«
Eine alte Frau mit scheuen Augen fasste sich sogleich ein Herz. Gwen stand auf und nahm das Foto von ihr entgegen. Ah, wieder der spurlos verschwundene Sohn, der einen bankrotten Familienbetrieb, Frau und drei Kinder zurückgelassen hatte. Es war jetzt sicher schon das vierte oder fünfte Mal, dass sie dieses Bild und diese Frau sah. Sie nickte ihr kurz ermutigend zu. Danach legte sie das Foto vor Leander auf den Tisch.
Nur ganz kurz begegneten sich ihre Blicke. In seinem war etwas Stumpfes, Leeres fast. Aber er begann sofort, das Foto mit seinen glänzenden Fingerspitzen zu betasten, und legte dann so konzentriert los, als hätte er selbst keinerlei Sorgen.
Timo brauchte sie mit der Geschichte vom verlorenen Sohn nicht mehr zu kommen. Als sie sie ihm erzählt hatte, hatte er gesagt: »Der Bursche ist doch einfach mit ’ner anderen durchgebrannt! Der sitzt jetzt mit der Firmenkasse und ’ner neuen Frau in Casablanca. Und vielleicht hat er gute Gründe dafür. Was mischt ihr euch da überhaupt ein?«
Jetzt hatte sie nicht mitbekommen, was Leander gesagt hatte. Sie nahm das Foto wieder von ihm entgegen und gab es der Frau zurück, die vor Erleichterung strahlte.
Auch die Nächste war eine alte Bekannte: das ertrunkene Mädchen aus IJmuiden. Seit dem vorigen Mal sei sie dem Licht ein gutes Stück näher gekommen, sah Leander sofort, aber ihr Ringen sei noch nicht beendet. Vor Gwens geistigem Auge ruderte das arme Kind in trübem, mit Algen verschlicktem Wasser nach Leibeskräften mit Armen und Beinen, während ihm die letzte Luft aus den Lungen entwich. Doch geradedieses Ringen hatte die Kleine ja längst hinter sich. Es ging jetzt um einen ganz anderen Kampf.
Sie lauschte Leanders beruhigenden Worten. Dennoch erfüllte es sie nach wie vor oft mit einem unbehaglichen, bedrückenden Gefühl, dass man im Jenseits offenbar so viel Arbeit leisten musste. Man war noch lange nicht am Ziel, wenn man den letzten Atemzug getan hatte. Dann musste man sich zunächst einmal abgewöhnen, Mensch zu sein. Man konnte nicht mehr auf die eigenen Fähigkeiten zurückgreifen, und persönliche Unzulänglichkeiten galten nicht mehr als Entschuldigung. Man musste von allem Abstand nehmen, was einen im Leben unverwechselbar und einzigartig gemacht hatte. Schaute man sich weiterhin sehnsüchtig danach um, wer und was man gewesen war, wurde man zu einer kosmischen Variante der Frau des biblischen Lot: Man erstarrte in einer der vielen Übergangsstufen zwischen dem Irdischen und dem Höheren. Aber wie sollte ein ertrunkenes Mädchen, das noch so klein war, sich nicht nach seinem Hamster oder seinem Puppenhaus oder den starken Armen seines Papas zurücksehnen? Es erschien ihr so unfair, so herzlos auch, das von jemandem zu erwarten, der sich noch nicht mal allein die Schuhe zubinden konnte.
Wer jung sterbe, sagte Leander freilich, habe in der Regel eine alte Seele, das sei schon fast eine Gesetzmäßigkeit. Wer jung sterbe, verstehe sozusagen schon etwas davon. Nein, vermasseln würden es meistens Erwachsene in einer frühen Inkarnation, die nicht vom Kontakt mit den Lebenden ablassen könnten und damit Unglück über sich und andere brächten.
Ein Besucher nach dem anderen kam mit seinem Foto nach vorn. Bilder von einem verlorenen Ring, der ein geliebtes Erbstück war. Von einem von zu Hause weggelaufenen, querköpfigen Teenager. Vom verschwundenen Hündchen eines behinderten Kindes. Es war alles in allem eine ganz normale Sitzung.
Hinterher räumte Gwen den Saal auf. Sie löschte die Kerzen, drehte die Heizung ab und fand im Flur einen Schal, den jemand vergessen hatte. Die Leute gingen so erwärmt von hier weg, dass sie gar nicht mehr merkten, welche Jahreszeit es war. Sie nahm das Geld aus der Schale, die sie danach mit einem brennenden Stückchen Sandelholz reinigte. Dann erst ging sie in den Umkleideraum. Leander brauchte immer ein wenig Zeit, um sich zu erholen.
Er saß vor dem Spiegel und massierte seine Schläfen. Er sah grau und erschöpft aus.
»Müde?«, fragte sie,
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