Der Ausflug
Entführung ihrer kleinen Tochter – durch Außerirdische, wie es schien – unsicher und unberechenbar geworden war.
Sie nahm die Kerzen aus ihrer Tasche, stellte sie in die mit Wachs beträufelten Leuchter, zündete sie an und knipste das Licht aus. Es war zehn vor fünf. Rasch zog sie das Gummiband von ihrem Pferdeschwanz und drehte die Haare im Nacken zu einem Knoten. Dann ging sie die Tür öffnen.
Wie jede Woche, seit Leander diese Sitzungen begonnen hatte, wartete draußen schon ein kleines Knäuel Menschen. Die meisten waren Frauen, die um einiges älter waren als sie selbst. Sie standen fröstelnd im nassen Schnee beisammen, in der stummen Hoffnung vereint, dass sie heute Nachmittag vielleicht hier Antwort auf ihre Fragen bekommen würden. Die Ave-Marias und Vaterunser hatten sie längst abgehakt. Und sie wussten nicht, dass eigentlich Beatrijs sie hätte willkommen heißen sollen. Sie kannten nur Gwen als diejenige, die sie zu Leander einließ.
Im Vestibül tauschte sie mit den festen Besuchern Begrüßungen und Höflichkeiten aus, erkundigte sich nach verschwundenen Haustieren, Kindern, Ehepartnern. Neulinge wies sie auf die Kleiderhaken im Flur hin, an die sie ihre triefendenMäntel hängen konnten, und winkte ab, wenn Portemonnaies gezückt wurden: Nein, nein, wir erheben keinen Eintritt, aber im Anschluss können Sie gern eine Spende in dieser Schale hinterlassen, wenn Sie möchten. Verflixt, sie hatte vergessen, die Kerzen bereitzulegen, die die Leute mit nach Hause nehmen durften.
Im Eiltempo lief sie hinein, um sie zu holen. Zum Glück war die Lagerkontrolle noch nie Timos Stärke gewesen. Während kleckerweise die letzten Besucher hereinkamen, ordnete sie die Kerzen in einem Kreis um die Kupferschale an. Fünf Uhr. Zeit, die Tür zu schließen und die Klingel abzustellen.
Wieder im Saal, schlug sie auf den Gong. Das ohnehin zurückhaltende Stimmengewirr verstummte sofort. Sie nahm ihren Platz links neben dem Podium ein und faltete die Hände im Schoß. Vom anderen Ende des Saals her hörte sie Leanders Schritte. Ohne Eile ging er durch den Mittelgang nach vorn. Manchmal blieb er kurz stehen: Dann legte er jemandem kurz die Hand auf den Kopf. Je näher er kam, desto ruhiger wurde ihr Herzschlag. Mit allen anderen zusammen wurde sie in seine beruhigende, heilende Energie aufgenommen.
Er stieg die Stufen zum Podium hinauf, setzte sich an den Tisch und breitete die Hände aus, die leicht glänzten, weil er sie immer mit Vaseline eincremte, damit sie besser leiteten. Über dem schwarzen Oberhemd wirkte sein Gesicht mit dem nach hinten gekämmten Haar noch bleicher als sonst. Er blickte in die Runde. »Guten Tag und willkommen«, sagte er ebenso sachlich wie freundlich. »Manche von Ihnen kennen mich schon. Andere sind heute zum ersten Mal hier. Speziell für diese kurz das Folgende. Wahrscheinlich hatten Sie bereits einmal Kontakt mit Paragnosten, Magnetiseuren oder anderen Lichtarbeitern. Diese haben Ihnen nicht das geben können, was Sie suchten. Deshalb sind Sie jetzt hier.«
Es wurde noch stiller, als es schon war. Keiner der Anwesenden rührte sich.
»Wenn es Ihnen heute Nachmittag vor allem darum geht, Botschaften von Verstorbenen zu vernehmen, werden Sie merken, dass sich meine Arbeitsweise von dem unterscheidet, was Sie bisher mitgemacht haben. Meiner Erfahrung nach gibt es keinen Tod und keine Toten. Sterben ist nur ein Versuch, aus dem Stadium des Menschseins zu erwachen und Eingang in eine andere Dimension zu finden. Ich kann Ihnen, wenn Sie es möchten, zwar sagen, wie weit Ihre Verstorbenen auf diesem Weg vorangekommen sind. Aber ich möchte sie nicht mit erdverhafteten Fragen belästigen. Es ist unser Auftrag, jene, die im Begriff sind zu erwachen, in Liebe loszulassen. Das ist der beste Dienst, den wir ihnen, aber auch uns selbst erweisen können.«
Gwen hatte ihn diese Worte inzwischen schon so oft aussprechen hören, doch sie verursachten ihr jedes Mal wieder Gewissensbisse. Nach Veronicas Tod hatte Timo mit den erschütterten Engeln ein kleines Gedicht einstudiert. Marleen und Marise hatten es bei der Beerdigung im Anschluss an die erwachsenen Redner im Trauersaal tapfer vorgetragen. Sie war sogar noch stolz gewesen, dass sich ihre Töchter so etwas zutrauten. Mit Haarklemmen in den wilden Mähnen und identischen karierten Blusen ohne Risse oder Flecken an, hatten sie mit erstickten Stimmen rezitiert:
»Könnten Tränen Stufen bauen
und Erinnerungen noch mehr,
stiegen
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