Der Ausloeser
konzentrierte sich ganz auf die Bewegung ihrer Beine und sprintete zur Clark Street. Dort war immer etwas los, dort waren Leute, Autos. Sie konnte es schaffen, selbst wenn er dicht hinter ihr war.
Trotzdem hätte sie es fast noch vermasselt, als sie den dumpfen Knall aus der Wohnung hörte. Sie wusste, was das bedeutete. Ian hatte alles riskiert und alles verloren.
Ein schreckliches Gefühl stieg in ihr auf, aus dem Bauch durch die Lunge in den Mund – die endgültige Gewissheit, dass es im Leben um Risiko, Gewinn und Verlust ging, und dass das Spiel noch lange nicht zu Ende war. Eine Erkenntnis, die eine Trotzreaktion auslöste, eine instinktive Wut auf die Mächte, die in ihr Leben eingedrungen waren, in ihre Wohnung, um ihren Freund zu töten. Ihre Hände verkrampften sich. Um ein Haar wäre sie stehen geblieben und hätte sich hinter dem nächsten geparkten Wagen versteckt, um dem Mörder aufzulauern. Sie, die Gejagte, wollte zur Jägerin werden, sie wollte den Killer mit einem saftigen Tritt in die Magengrube niederstrecken und weiter auf ihn eintreten, wieder und wieder, bis ihre Zehen brachen, bis der letzte Funken Leben in ihm erloschen war.
Doch sie erinnerte sich an den Ausdruck in Ians Augen. Er hatte sich nicht geopfert, damit sie sich nun als Actionheldin versuchte. Er hatte sich an die Regeln des Spiels gehalten und die größtmögliche Strafe akzeptiert, um ihr die Chance zu geben, eine Katastrophe zu verhindern. Deshalb musste auch sie sich an die Regeln halten. Alles andere wäre der ultimative Verrat.
Außerdem hatte sie noch etwas zu erledigen: Ian war tot, aber für Mitch und Alex war es vielleicht noch nicht zu spät.
Also rannte sie weiter, mit pumpenden Armen und brennender Lunge, getrieben von purer Verzweiflung. Wäre sie nicht vor ein Taxi gestolpert, das auf der Suche nach Vergnügungssüchtigen durch die Straßen fuhr, wäre sie wahrscheinlich bis zum Polizeirevier gelaufen. Sie verlor das Gleichgewicht, hielt sich an der Motorhaube fest und stieg ein.
Sie hätte damit die richtige Entscheidung getroffen, meinte Detective Bradley hinterher. Sie hätte viele Menschenleben gerettet. Sie hätte unschuldige Frauen und Männer, Cops und Sanitäter, davor bewahrt, ahnungslos das Rossi’s zu betreten.
Vermutlich hatte er recht, aber wie so oft war das nur ein schwacher Trost. Es änderte nichts an der Realität.
Dabei hatte er ihr zuerst gar nicht geglaubt. Doch als sie ihm die ganze Geschichte erzählte, von vorne bis hinten, verwandelten sich seine Zweifel erst in Interesse, dann in blankes Staunen. Sie konnte gar nicht schnell genug reden, denn ihr war klar: Je früher der Detective handelte, desto besser standen die Chancen für ihre Freunde. Vielleicht war es noch nicht zu spät, vielleicht konnte sie ihr Versprechen immer noch halten, obwohl sie so lange aufgehalten worden war. Vielleicht konnte sie immer noch dafür sorgen, dass Victor schon bald in einer Zelle saß.
Und wenn nicht? Nicht auszudenken.
Wie Mitch vorhergesagt hatte, war es wirklich nicht leicht, den Detective zu überzeugen. Bradley wurde erst hellhörig, als sie Details ins Spiel brachte. In den kleinsten Einzelheiten schilderte sie den Überfall und den Mord in der Gasse, wie sie die Flaschen mit den Chemikalien im Kofferraum entdeckt hatten, die Überlegungen, die sie angestellt hatten, schließlich den heutigen Abend. Sie konnte förmlich sehen, wie sich die Zweifel aus Bradleys Augen verflüchtigten.
Die Strategie ging auf, aber es dauerte. Es dauerte zu lange. Als sie gerade zum Ende kam, öffnete ein Cop die Tür. »Detective …«
»Sie sehen doch, dass ich beschäftigt bin.«
»Es geht um das Restaurant aus Ihrem Fall. Um das Rossi’s.«
Jenn saß auf der Stuhlkante, die Ellenbogen auf dem Tisch, die Augen auf Bradley gerichtet wie auf einen Mitverschwörer oder Liebhaber. Doch als sie den Namen des Restaurants hörte, zuckte sie zurück und starrte den Cop an. Sie wusste, was er sagen würde, und wollte es trotzdem nicht hören. Solange er es nicht ausgesprochen hatte, war es nicht wahr, erst durch seine Worte würde es sich zur Realität verfestigen. Alex und Mitch waren gute Jungs, sie waren intelligent und stark, vielleicht hatten sie es auch ohne ihre Hilfe geschafft.
»Aus der Gegend wurden Schüsse gemeldet. Ein längerer Schusswechsel. Das ist doch Ihr Restaurant, oder? Wo neulich die Leiche gefunden wurde?« Die Lippen des Cops bewegten sich, plapperten unnütze Fakten, überflüssige
Weitere Kostenlose Bücher