Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
Auflösung des SDS gegangen war und um die Frage, wie der Kampf weitergehen solle. Die Theoretiker hatten sich gegenüber der »Lederjackenfraktion« durchgesetzt. Thorwald kochte vor Wut.
Ein paar Tage später kam Andreas von einer Berlinreise zurück. Er hatte Jan-Carl Raspe getroffen, der dort in der Kinderladenszene aktiv war. Baader war völlig aufgekratzt und redete hektisch davon, wen er alles getroffen hatte: Antje und diese Idioten von der K 2 , Ulrike … Für Boock waren das Geschichten wie aus 1001 Nacht.
Eine gute Stunde vor Mitternacht sagte Baader plötzlich: »Was haltet ihr davon? Wir fahren jetzt nach Darmstadt und leeren das ›Underground‹.«
»Was tun wir?« fragte jemand. »Wir haben doch gar kein Auto.«
»Das macht nichts. Klauen wir zwei oder drei.«
So fuhr die Truppe mit drei gestohlenen Wagen nach Darmstadt. Zwölf Leute, die eine ganze Diskothek aufmischten, Leute anrempelten, Gläser umwarfen, bis alle übrigen Gäste die Flucht ergriffen hatten und der Laden ihnen gehörte. Der Wirt sah tatenlos zu, wie sich die Besucher bedienten. Die Polizei zu rufen war ausgeschlossen. Im Morgengrauen fuhr die Gruppe zurück, aufgedreht und glücklich.
Am vierten Tag holte Boock sich seinen ersten Tripper. Da es innerhalb der Gruppe passiert war, machte die Infektion schnell die Runde. Am Ende saß man zu neunt im Wartezimmer eines Hautarztes.
Das lockere Leben außerhalb der Mauern von Fürsorgeheimen sprach sich schnell herum. Abhauen, nach Frankfurt gehen. Als Boock zu Baader und Ensslin stieß, bestand die vom Gericht angeordnete Sozialarbeit aus einer Gruppe von etwa dreißig Zöglingen. Eine Woche später waren es achtzig, eine weitere Woche später hundertzwanzig. Allmählich waren die studentischen Ressourcen aufgebraucht. Vor allem aber begannen sich die Wohngemeinschaften zu wehren, in denen die Jugendlichen untergebracht worden waren: Plattensammlungen verschwanden, in den Regalen fehlten plötzlich Bücher, ganze Stereoanlagen wurden abgebaut.
Andreas unterstützte seine Zöglinge moralisch, wenn die marodierend durch die Szene zogen: »Nehmt keine Rücksicht. Das sind eure zukünftigen Ärzte, Rechtsanwälte. Die leben sowieso von eurer Haut. Also bedient euch. Keine moralischen Skrupel.«
Und so verhielten die Jugendlichen sich. Wenn ihnen irgend etwas gefiel, dann nahmen sie es mit. Wenn jemand widersprach, dann gab es etwas auf die Fresse. Nur wenige widersprachen. Es war unbequem und unangenehm, aber auch irgendwie chic, vom militanten Proletariat unter Führung des prominenten Brandstifters ausgenommen zu werden. Eines Abends kam Peter-Jürgen Boock in eine Wohnung, in der auch Evelyn wohnte. Sie arbeitete als Fotomodell und hatte nebenbei eine soziale Ader. »Die kriegst du auf die Matratze«, sagte einer der entlaufenen Fürsorgezöglinge zu Boock. Sie rauchten einen Joint, und dann schliefen sie miteinander. Boock dachte: »Sie hat mit der sozialen Randgruppe geschlafen und ich mit dem Playmate des Monats.«
Nach der Besetzung des Frankfurter Jugendamts gab es Zusagen für Wohnungen und Geld. Allerdings sollte für jedes Wohnprojekt ein Sozialarbeiter verantwortlich sein. Und so kam es, daß sämtliche Fraktionen der Frankfurter Linken vertreten waren, das Marxistisch-Leninistische Kollektiv, das Sponti-Kollektiv, das Kollektiv der Humanistischen Union. Entsprechend verliefen die Diskussionsprozesse: Wie weiter? Randgruppentheorie hin oder her. Aber alles hat seine Grenzen.
Inzwischen waren andere Kollektive dabei, in Fortsetzung der Randgruppenkampagne eine Knastkampagne zu beginnen. Doch darüber waren Gudrun und Andreas längst hinaus. Im Kreise ihrer befreiten Fürsorgezöglinge kam das Gespräch immer wieder auf den bewaffneten Kampf. Südamerika, die Stadtguerilla, die Tupamaros … Boock saß bei solchen Diskussionen am Rande, hörte zu, redete manchmal mit. Das war alles neu für ihn. Aber weil die anderen es wollten, wollte er es auch. Ganz klar. Auch wenn er noch keine eigene Position dazu hatte. Peter-Jürgen Boock gehörte zu den ersten entlaufenen Fürsorgezöglingen, die »außer Verfolgung« gesetzt wurden. Eine Frankfurter Sozialarbeiterin fuhr eigens nach Hamburg, um mit dem Jugendamt auszuhandeln, daß er ganz offiziell bei der Sozialarbeitergruppe Baader und Ensslin leben durfte. Umgehend wurde ein Verein unter dem Namen »Arbeits- und Erziehungshilfe« gegründet, um die revolutionäre Sozialarbeit vom Staat finanziert zu
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