Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
Ziel gesetzt hatten«, erinnerte sich später Thorwald Proll. »Sie wollten, daß wir zurückkommen, und es wäre doch alles ganz harmlos, und sie bräuchten uns. Wir waren eben so eine Raumstation für sie. Da konnten sie sich alles vorstellen mit uns. Dann haben wir sie verlassen, und da fühlten sie sich verlassen.«
Die Gruppe beratschlagte, was nun zu tun sei. Einer kam auf die Idee, in den Nahen Osten zu fahren und sich dort bei El Fatah, einer bewaffneten Gruppe innerhalb der PLO , umzusehen. Gudrun Ensslin dagegen neigte eher zu einer ruhigen Phase. Sie wollte ein Buch über die Frankfurter Lehrlingskampagne schreiben. Die meisten der gesammelten Unterlagen, Flugblätter, Personalakten von Heimzöglingen, Briefe und Tonbandinterviews waren aber in der Hektik des Aufbruchs in Frankfurt geblieben, so daß aus der schriftstellerischen Arbeit nichts wurde.
Astrid und ein Begleiter erhielten den Auftrag, nach Amsterdam zu reisen, um dort bei einem in linken Kreisen bekannten Experten falsche Papiere anfertigen zu lassen. Als verloren gemeldete Reisepässe deutscher Genossen sollten mit neuen Fotos ausgestattet werden. Bevor die beiden Amsterdam wieder verließen, sahen sie sich noch die amerikanische Originalfassung von »Easy Rider« mit holländischen Untertiteln an. Dann fuhren sie zurück nach Paris.
Als seine Schwester Astrid wieder auf der Bildfläche erschien, wurde Thorwald Proll »ersetzt«, so jedenfalls empfand er die Situation: »Ich verlor einfach den Anschluß. Es hing mit dem Warten zusammen. Dann kam die Erlösung. Aufbruch. Und jetzt?«
Thorwald Proll hatte gedacht: »Wir fahren, wir bewegen uns immer weiter.« Als Astrid aber da war, mit dem Auto, fühlte er sich nicht in der Lage, weiterzumachen. »Ich wollte das nicht, fühlte mich isoliert. Es war vielleicht meine Schwäche. Jedenfalls bin ich dageblieben, und meine Schwester hat den Platz eingenommen. Sie ist das Auto gefahren.«
Thorwald blieb in der Wohnung: »Es war ein etwas trauriger Moment. Es war einsam.«
Er hatte darauf gewartet, daß Andreas sagen würde: »Du spinnst. Was soll das? Das ist doch ein blödes Geschwisterspiel.« Aber Andreas hatte es nicht gesagt. »Und dann hieß es: Du gehst jetzt nach England, und dann kommst du wieder, aber das sagt man nur so. Und da weißt du nicht, ob das so wahr ist. Aber dies ist alles sehr persönlich und sehr psychologisch. Davon hängt das Schicksal der Revolution nicht ab.«
Thorwald Proll stellte sich später, wie auch der vierte Kaufhausbrandstifter Horst Söhnlein, zum Strafantritt. Beide tauchten nie wieder im Zusammenhang mit der Baader-Ensslin-Truppe auf.
Baader, Ensslin und Astrid Proll reisten weiter nach Italien. Dort kamen sie bei Bekannten aus Berlin unter, besuchten auch die Schriftstellerin Luise Rinser, die später an die Familie Ensslin schrieb: »Gudrun hat in mir eine Freundin fürs Leben gefunden.«
Im Januar 1970 besuchte einer aus dem Frankfurter Lehrlingskollektiv Ulrike Meinhof in Berlin. Sie bereitete gerade die Dreharbeiten für ihren Fernsehfilm »Bambule« vor. Im Herbst hatte sie sich das Zöglingsprojekt in Frankfurt angesehen, hatte versucht, Ratschläge zu geben, und mit Baader und Ensslin lange Diskussionen über deren Arbeit geführt. Jetzt, da nach dem Untertauchen der wichtigsten Organisatoren das Projekt auseinanderzufallen drohte, sollte die Journalistin dazu bewegt werden, nach Frankfurt zu kommen und die Lehrlingsarbeit weiterzuführen. Aber Ulrike Meinhof lehnte ab. Sie war vollauf mit ihrem Film beschäftigt, darüber hinaus hatte sie ihre beiden Töchter zu versorgen. Sie erklärte sich aber bereit, ein Gnadengesuch für die Kaufhausbrandstifter zu unterstützen: »Ich kenne Heinemann [damals Bundespräsident] gut von früher, als er noch Gesamtdeutsche Volkspartei war.«
Auch andere, wie der Leiter des Frankfurter Stadtjugendamtes Herbert Faller, schrieben Briefe an Regierungsmitglieder und baten um eine Begnadigung der Kaufhausbrandstifter. Faller lobte vor allem die Lehrlingsarbeit der Gruppe, die ohne sie nicht weitergeführt werden könne.
Anfang Februar 1970 lehnte der hessische Justizminister Hempfler das Gnadengesuch ab. Die Gesuchten erfuhren davon in Italien. Gudrun rief in Frankfurt an und erkundigte sich nach den Einzelheiten: »Wir haben hier unten im Radio etwas in Sachen Gnadengesuch gehört, es aber nicht genau verstanden.« Ihr Gesprächspartner bestätigte, daß ihr Gesuch abgelehnt worden sei. »Na, dann
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