Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
und nicht mehr Blümchen vor den Fenstern. Die wollen weg hier.«
Unter den Blicken der Erzieher saßen die Zöglinge mit ihren aufrührerischen Besuchern auf dem Rasen und redeten ein ganzes Wochenende lang. Thorwald Proll, den die Heiminsassen aufgrund seiner dicken Brillengläser sofort »Apfelauge« getauft hatten, verteilte Unmengen von Mao-Bibeln. Niemand hatte die Absicht, sie zu lesen. Aber allein der Besitz der kleinen roten Bücher war Provokation genug.
Boock fühlte sich wie durch ein unsichtbares Band zu Baader und Ensslin hingezogen. Wie diese sich stillschweigend verständigen konnten, indem sie sich nur einen Blick zuwarfen, wie sie mit Gesten kommunizierten, wie sie gegenseitig Sätze ergänzten, sich die Bälle zuwarfen, faszinierte Boock schon am ersten Tag. Die beiden mußten sich nicht abstimmen, mußten nicht miteinander diskutieren. Sie waren eins. Nicht die Einzelpersonen hatten es Boock angetan, nicht die schmale Gudrun mit ihren langen blonden Haaren und der schwäbischen Aussprache, nicht der brünette Andreas Baader mit seiner John-Lennon-Brille mit den kleinen dunklen Gläsern. Es war die Symbiose der beiden, die Boock in ihren Bann schlug.
Andreas hatte den Jargon der Heimzöglinge drauf, Gudrun nahm die Jugendlichen in den Arm. Astrid redete von schnellen Autos und starken Motoren. Und alle gemeinsam von der Revolution, die – jedenfalls hier – schnellstens gemacht werden müsse.
»Abhauen, wegkommen, was Neues finden.«
»Ja, aber was?«
Peter-Jürgen Boock sagte etwas von »Kommune«.
»Nein«, sagte Gudrun, »das ist so ein Wort, das sollte man vielleicht nicht benutzen. Das ist etwas vorbelastet. Nennen wir das Ganze doch Kollektiv.«
Zwei Wochen später bestreikten die Heiminsassen den Gottesdienst. Sie setzten sich vor die Kirchentür und sagten: »Wir gehen nicht.« Die Erzieher rückten mit Hockeyschlägern an und droschen auf das gute Dutzend Aufrührer ein. Boock fand sich in der Arrestzelle wieder. Die Heimleitung beantragte seine Rückführung nach Glückstadt.
Am nächsten Wochenende tauchten die Frankfurter Sozialhelfer wieder auf. Boock nahm sie beiseite: »Die wollen mich zurückverlegen. Wenn wir hier eine richtige Fürsorgezöglingsgruppe aufbauen, kann das über Nacht passieren. Aber ich habe keine Lust, nach Glückstadt zurückzugehen. Da komme ich nie wieder raus, bis ich 21 bin.«
Astrid gab ihm eine Telefonnummer. Dort solle er anrufen, wenn er abgehauen sei. Sie würden ihn dann an der Autobahnbrücke abholen.
Als aus Glückstadt die Nachricht kam, man werde ihn wieder aufnehmen, hebelte Boock gemeinsam mit einem anderen Insassen ein Fenster auf und türmte. An der verabredeten Autobahnbrücke warteten die beiden vergeblich, denn Astrid Proll hatte den Treffpunkt verwechselt. So trampten sie nach Frankfurt und quartierten sich bei Baader, Ensslin und den Prolls ein. In der Freiherr-vom-Stein-Straße hatten sich die Freigänger in einem Wohnprojekt eingenistet, das eine Gruppe von Uni-Assistenten gegründet hatte. Den permanenten Streit in der komfortablen Villa nutzten Baader und Ensslin geschickt aus, um sich im Hause auszubreiten. Nach und nach flüchteten die Assistenten, und das Fürsorgeprojekt konnte in die nächste Runde gehen. Besucher aus München, Berlin und Hamburg tauchten auf, und es dauerte nicht lange, da drehte sich das Gespräch um den bewaffneten Kampf.
Andreas, Gudrun und die anderen wirkten irgendwie kränklich, geschwächt. Im Gefängnis hatten sie sich in wilden Träumen ausgemalt, was sie tun würden, wenn sie wieder in Freiheit wären. Eines davon war, sich eine Spritze zu setzen, mit Opiumtinktur. Noch am Tag ihrer Entlassung hatten sie sich gemeinsam einen Schuß gesetzt, alle aus ein und derselben Spritze, und die war unsauber gewesen. So hatten sie alle die Gelbsucht.
Am Abend, als Peter-Jürgen Boock in der Villa auftauchte, saß Gudrun gerade in der Badewanne.
»Hallo, da bist du ja«, sagte sie. »Wo ist denn Astrid?«
»Weiß ich auch nicht. Haben wir verpaßt.«
Boock fragte, ob er auch ein Bad nehmen könne.
»Setz dich mit rein«, sagte Gudrun. »Ist doch voll. Keine Wasserverschwendung. Können wir uns unterhalten.«
Peter wurde rot, zog sich dann aber doch aus und setzte sich zu Gudrun in die Wanne. Wenig später kam Thorwald. Er warf die Tür fluchend ins Schloß: »Diese Idioten. Alles Verrückte, die ML ler. Diese Wichser.«
Er war auf einer Diskussionsveranstaltung gewesen, bei der es um die
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